ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Zu lange hat es gedauert, bis deutsche Historiker sich systematisch und monographisch mit dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz zu befassen begannen. Zur Hitlerschen Machtergreifung, seiner Außen- und Innenpolitik, zum Weltkrieg, zur Verfolgung der Juden und Gegner des Regimes, selbst zu den Konzentrationslagern in Deutschland und zu vielen anderen Spezialfragen liegen seit Jahren kaum noch zu überblickende umfassende Forschungen und Veröffentlichungen vor – doch zu den Vernichtungslagern Chelmno, Treblinka, Belzec, zu Auschwitz-Birkenau und Majdanek gibt es im klassisch historiographischen Sinne von hier aus wenig bis gar nichts. Dieses Desiderat ist allein schon deshalb bedauerlich, da die Leugner der NS-Massenmorde in aufwändigen, sich wissenschaftlich gebenden monographischen Studien immer wieder Auschwitz zum Thema machen. Leicht hätte man dem mit anspruchsvollen historischen Forschungen und Dokumentationen bereits seit Jahren einen Riegel vorschieben können.

Doch spät ist nicht zu spät, denn mit diesen vier Bänden legt ein Forscherteam um Norbert Frei für das Institut für Zeitgeschichte ein vierbändiges Werk vor, mit dem eine Schriftenreihe zur Geschichte des KL Auschwitz eröffnet wird. In diesen ersten Bänden werden bislang unveröffentlichte Quellen dokumentiert, wird manche bisher nur als Hypothese formulierte Annahme solide unterbaut und in vielerlei Hinsicht werden neue Erkenntnisse und weiterführende Interpretationen vorgetragen. Der Akzent liegt auf der historisch-empirischen Seite, auf den (z.T. neu aufgetauchten) Akten .

Sämtliche relevanten Ergebnisse dieses Forschungsprojektes im Einzelnen wiederzugeben, ist im Rahmen einer Besprechung nicht möglich. Der mit diesen Bänden eröffnete neue Horizont ist beeindruckend und wird die Fachwelt sicher beschäftigen. Ich kann mich nur auf wenige mir besonders bedeutsam erscheinende neue Aspekte beschränken. Die Standort- und Kommandanturbefehle (Band 1), die überwiegend aus dem Moskauer Sonderarchiv stammen, werden von den Herausgebern interpretatorisch hilfreich eingeleitet. Sie enthalten – versteckt zwischen bürokratisch belanglosen Vorschriften – einige bemerkenswerte Details, aus denen sich historische Wirklichkeiten des Lebens und Sterbens im Lagerkomplex Auschwitz erschließen lassen. So wurde im Oktober 1942 "das Gebiet um Birkenau als Sperrgebiet für Zivilisten erklärt" (S. 190). Anlässlich eines Abends im Rahmen der SS-Truppenbetreuung wurde das Thema "Goethe – ernst und heiter" so "abgestimmt, dass auch der einfache Mann, dem Goethe nur wenig oder gar nicht Begriff ist, mit größtem Genuss diesen Darbietungen folgen kann". Dieser Abend biete "Gelegenheit, gerade die Volksdeutschen mit den höheren Gütern deutscher Kultur vertraut zu machen" (S. 220). Unter Liebehenschel verschärften sich die Strafandrohungen gegenüber den SS-Angehörigen (S. 385, 379): "Jeder SS-Mann und jeder SS-Führer möge sich darüber im Klaren sein, dass unser Leben nicht uns, sondern dem Führer und dem Reich gehört" (S. 493). Direkte Anweisungen zum Massenmord enthalten diese Befehle nicht; einige Aussagen zwischen den Zeilen werden als Hinweise auf diesen interpretiert. Im Grunde handelt es sich bei diesen Befehlen um typische Verwaltungsvorschriften, die alles und jedes bürokratisch regeln – von der Unterbringung der Fahrradständer bis zum Tragen der Schirmmützen im Dienst. Auch endlose Namenslisten von Beförderungen, Belobigungen, Auszeichnungen und Versetzungen wurden in die Edition aufgenommen. Die Herausgeber nahmen auch diese auf den ersten Blick belanglosen Vorschriften auf, um zu zeigen, dass es auch in Auschwitz "so etwas gab wie Normalität". Die Dokumentation hätte m. E. auch bei starken Kürzungen, z.B. auf die in der Einleitung herausgehobenen Befehle, ihren Aussagewert nicht eingebüßt.

Sybille Steinbachers (Band 2) hier veröffentlichte Bochumer Dissertation widmet sich einem bisher noch nicht systematisch erforschten Thema – dem Zusammenhang von Ostsiedlungsprogramm, Massenmord und "Musterstadt-Konzept". Auschwitz bzw. Oswiecem als Stadt mit eigener Geschichte rückt hier in den Vordergrund der Untersuchung. Diese Stadt hatte bis zum September 1939 eine blühende jüdische Gemeinde. Die Geschichte der Stadt unter deutscher Besetzung wird materialreich, quellenorientiert und differenziert dargestellt. Während des Aufbaus und der Erweiterung des KZ "bevölkerten" tausende Reichsdeutsche, z.T. mit ihren Familienangehörigen, die Stadt; die SS formulierte für den sog. "Oststreifen" Ostoberschlesien ein Siedlungsprogramm, wobei die Stadt Auschwitz Oberschlesien einverleibt und damit staatsrechtlich Teil des deutschen Reiches wurde: Das Vernichtungslager Auschwitz lag mithin nicht weit weg "im [besetzten] Osten", sondern in Deutschland selbst. Die einsetzende "Germanisierung" der Stadt, die Enteignung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in und um Auschwitz wird quellenorientiert genauestens herausgearbeitet. Die Verfasserin hat mit ihrer ausgezeichneten Studie zur Stadtgeschichte von Auschwitz unter deutscher Besatzung einen wichtigen Beitrag zur Peripherie des Vernichtungslagers geleistet. Offen bleibt die Frage, ob die Stadtgeschichte hier Objekt oder Subjekt, ob "Germanisierung" und Industrialisierung der Stadt eine entscheidende Rolle im Prozess der in Birkenau verübten Massenmorde eingenommen haben, ob die Stadt bloß "politisch-historischer Handlungsraum" (und damit im Prinzip austauschbar) oder Bedingung und Voraussetzung war. Bei der Kennzeichnung der gegenwärtigen Diskussion zu Auschwitz stellt die Verfasserin zu Recht fest, dass über Auschwitz zu wenig geforscht wird; dieses Versäumnis wendet sie jedoch nicht selbstkritisch auf die Historiker an, sondern sie spricht missverständlich vom "Ausweichen in moralisch-ethische beziehungsweise kultur- und gegenwartskritische Überlegungen". Neben der historischen Forschung behalten im Zusammenhang mit der KZ-Forschung ethische und gesellschaftskritische Fragen – nicht zuletzt als Bildungsfrage – ihren zentralen Ort; sie drängten sich z.B. Eugen Kogon, Bruno Bettelheim, Primo Levi und Jorge Semprún aus der Erfahrung der KZ-Haft nachgerade auf.

Bernd C. Wagners Bochumer Dissertation über die IG Auschwitz (Band 3) hat das von den IG Farben begründete Lager Monowitz zum Thema. Die Untersuchung des auf Initiative einer privaten Firma begründeten Konzentrationslagers ist ein grundlegender Beitrag nicht nur zur KZ-Forschung, sondern zum NS-Staat und seiner Verfolgungspraxis selbst, besonders zur Frage Zwangsarbeit oder Vernichtung der jüdischen Schutzhaftgefangenen. Monowitz war der erste Versuch seitens der SS, in großem Maßstab die KZ-Gefangenen als Arbeitskräfte für die Rüstungsproduktion im Krieg einzuspannen. Dass die gefangenen europäischen Juden Zwangsarbeit im Rahmen der letztlich auch gegen ihre Existenz gerichteten Kriegsrüstung zu leisten hatten, war schon infam genug. Die katastrophalen Arbeits- und Existenzbedingungen im Lager Monowitz werden von Wagner kenntnisreich und differenziert dargestellt, wobei die Rolle der Funktionshäftlinge deutlich hervortritt. Der Tagesablauf in Monowitz, die Arbeitskommandos, die einzelnen Gruppen im Lager, der Häftlingskrankenbau und die "Selektionen" werden quellenorientiert und informativ beschrieben. Von den etwa 35.000 in Monowitz eingesetzten Gefangenen überlebten etwa 25.000 das Lager nicht. Das Verhältnis zwischen SS und Unternehmensleitung in der Frage des Einsatzes der Häftlinge wird akribisch bis in die personalen und strukturellen Verantwortungsebenen ausgeleuchtet. Mit dieser beispielhaften Untersuchung sind vorschnelle Schuldzuschreibungen und einseitige Täterabgrenzungen überzeugend widerlegt; künftige Untersuchungen sollten hinter das Niveau dieser Differenzierung nicht mehr zurückfallen. Differenzierung meint hier nicht der Schuldfrage auszuweichen; im Gegenteil: Es meint sie erst auf der Grundlage einer präzisen und kenntnisreichen konkreten historischen Untersuchung der jeweiligen Verantwortungsbereiche und Entscheidungsabläufe stellen zu können.

Band 4 (Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik) umfasst eine Reihe anspruchsvoller Beiträge, überwiegend zur Geschichte anderer NS-Konzentrations- und Vernichtungslager bzw. zu den Massenmorden an den osteuropäischen Juden. Jens-Christian Wagner verdeutlicht am Beispiel der letzten Phase des KL Mittelbau-Dora, als das Massensterben unvorstellbare Ausmaße angenommen hatte, dass die Diskussion um den Primat der Politik versus den der Ökonomie hier die Sache nicht trifft, weil "keine klare Trennung zwischen ‚rationalen’ wirtschaftlichen und ‚irrationalen’ ideologischen Aspekten" gegeben war (S. 41). "Ideologie" und "Ökonomie" überschnitten und bedingten sich hier vielmehr auf verschiedenen Ebenen. Jan Erik Schulte stellt die Geschichte der von der SS eingerichteten "Ostindustrie GmbH" dar, die im besetzten Polen die Beraubung und Ausnutzung der jüdischen Bevölkerung organisierte. Sie war von Oswald Pohl vom Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) im März 1943 gegründet worden. Deutlich wird neben vielen historiographisch neuen Erkenntnissen zur sog. "Osti", dass der Zwiespalt zwischen der Vernichtungsplanung Himmlers und dem auf langfristige Ausnutzung der Juden angelegten Strategie seitens des WVHA sich "nicht überbrücken" (S. 74) ließ. "Der Zusammenbruch der Osti war die Folge der schon Ende 1942 postulierten Forderung Himmlers, die jüdischen Zwangsarbeiter umzubringen, und er war eine vermutliche ad-hoc-Reaktion auf die Aufstände und Aufstandsversuche jüdischer Ghetto- und Lagerinsassen seit Frühjahr 1943" (S. 74).

Christian Jansen setzt sich am Beispiel des Lagers Laagberg, einem Außenkommando des KZ Neuengamme, historisch-kritisch mit der These der "absoluten Macht" des Terrors (Wolfgang Sofsky) auseinander. Die methodische differentia specifica zwischen historischer Wissenschaft und Soziologie wird nicht nur in diesem Aufsatz (besonders seitens der jüngeren Fachvertreter) recht selbstbewusst und z.T. auch abgrenzend vorgetragen. Ich denke an Canettis Satz, dass die Strenge der Fachdisziplinen sich hier [beim Begreifen des Phänomens Nationalsozialismus] als Aberglaube erweist, weil man hierfür neue Mittel und Methoden heranholen müsse, "wo immer sie sich bieten". Karin Orth liefert einen Beitrag zur bekannten Problematik der Funktionshäftlinge, indem sie vor allem am Beispiel des Lebenswegs eines "grünen" Kapos – bis in Nachkriegsprozesse hinein – die durch gemeinsam begangene Verbrechen geschaffene "Verbundenheit" zwischen SS-Angehörigen und Funktionshäftlingen belegt.

Dieter Pohl dokumentiert den bislang noch nicht historisch im einzelnen erforschten Judenmord in der Ukraine; insgesamt etwa 1.4 Millionen einheimische Juden gerieten in der Ukraine unter deutsche Herrschaft. Die Zahl der Opfer ist nicht genau festzustellen; sie war sehr hoch. Pohl belegt die Kooperation zwischen den zivilen und militärischen Instanzen der Besatzungsmacht mit den Einsatzgruppen, Polizeibataillonen und der SS-Brigade 1. Die Ordnungspolizei "stellte gemeinsam mit der ukrainischen Hilfspolizei das personelle Rückgrat der ‚Judenaktionen’" (S. 173). Christian Gerlach untersucht die Rolle des Generalquartiermeisters Eduard Wagner im Krieg gegen die Sowjetunion. Wagner und seine Militärverwaltung waren bei zahlreichen Massenverbrechen, nicht nur bei der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener und beim Völkermord an den Juden, maßgeblich beteiligt. Wagner beteiligte sich in einer schillernden Rolle am Staatsstreichversuch vom 20. Juli 1944 und tötete sich wenige Tage später selbst. Gabriele Lotfi schildert die verschiedenen Funktionen, die die SS-Sonderlager (am Beispiel von Hinzert, Stutthof und Soldau) und Polizeihaftlager im Verfolgungssystem einnahmen: Sie blieben z.T. bis Kriegsende "regionale Willkürnischen der Sicherheitspolizei" für verschiedene Formen der Schutzhaft oder Polizeihaft. Bernd C. Wagners Beitrag "Gerüchte, Wissen, Verdrängung: Die IG Auschwitz und das Vernichtungslager Birkenau" belegt überzeugend aus seinen Forschungen zum Buna-Werk der IG Farben, dass die Massenmorde in Birkenau in der Umgebung kein Geheimnis waren; er leistet damit en passant einen kompetenten quellensichernden Beitrag für die Auseinandersetzung mit den Leugnern des Holocaust.

Die Beiträge von Bernward Dörner und Sybille Steinbacher widerlegen die Legendenbildung, die von Seiten der deutschen Justiz nach 1945 über ihre eigene Rolle im Rahmen der NS-Verbrechen verbreitet wurden.

Sämtliche Bände sind mit Personen-, Orts- und Sachregister versehen. Der erste Band ist gemeinsam mit Jan Parcer, einem polnischen Historiker, ediert worden. Die Herausgeber und das Institut für Zeitgeschichte haben mit der Eröffnung dieser von der VW-Stiftung geförderten Schriftenreihe neue Maßstäbe für die historische Erforschung der Konzentrationslager gesetzt.

Dietfrid Krause-Vilmar, Kassel





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