ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Guth, Karin: "... wir mussten ja ins Judenhaus, in ein kleines Loch". Bornstrasse 22. Ein Erinnerungsbuch, Dölling und Galitz, Hamburg 2001, 103 S., 90 Duplex-Abb., brosch., 29,80 DM.

Das Erinnern ist eine kulturelle, im vorliegenden Falle zugleich eine moralische Aufgabe. Das Vergangene wird gegenständlich und objektbezogen vergegenwärtigt. Karin Guth hat sich dessen sehr konkretisierend und exemplarisch angenommen. Eine der vielen Zwischenstufen, welche die Juden vor ihrer Deportation zu erleiden hatten, war die auch räumliche Ghettoisierung. So genannte Judenwohnungen wurden als solche gekennzeichnet. Im Mai 1942 befanden sich von den 2.409 Hamburger Juden bereits nahezu 90 Prozent in derartigen Häusern. Seit dem Frühjahr 1942 begann die Gestapo in Hamburg, kennzeichnungspflichtige Juden - also so genannte Sternträger - in "Judenhäuser" zwangsweise umzusiedeln. Es handelte sich um enteignete Mehrfamilienhäuser der Jüdischen Gemeinde oder ehemaliger jüdischer Stiftungen. Die Bornstraße 22 in Hamburg war eines von ihnen. Karin Guth kann nachweisen, dass dort bis Kriegsende mindestens 185 Personen kurz oder länger in engsten räumlichen Verhältnissen lebten, in quälender Ungewissheit wie alle Juden, stets auf Abruf bis zur nächsten Deportation, harmlos durch den Ausdruck "Abwanderung" eher getarnt denn bezeichnet. Familien werden zerrissen. Spätestens seit 1943 kamen auch Eheleute in "Mischehe" hinzu. Man kennt die Namen fast aller, ihre Schicksale vielfach, einige überlebten.

Karin Guth ist diesen Schicksalen in Archiven im Sinne der mühsamen Spurensuche nachgegangen. Sie hat Überlebende als Zeitzeugen befragen und persönliche Dokumente ausfindig machen können. Sie fand Bereitwilligkeit der in der Welt Zerstreuten, ihr in der Rekonstruktion zu helfen. Daraus ist eine zeitlich begrenzte Ausstellung in den Räumen des "Judenhauses" Bornstraße 22 geworden, eine künstlerisch-dokumentarische Installation. Die hier angezeigte Veröffentlichung ist der informierende Begleitband, der eigenes Gewicht besitzt. In ihm werden neben einem erläuternden Text zahlreiche Dokumente, Bild- und persönliche sowie amtliche Schriftdokumente wiedergegeben. Sie führen dem Leser sowohl das verbleibende individuelle Leben der ghettoisierten Juden, aber auch den unausweichlichen Zugriff der bürokratischen Verwaltung des NS-Staates vor Augen. Ausgewählte kurze Biografien zeichnen die Lebenssituation einiger nach, die jedoch für viele stehen. Das vermittelt trotz schwieriger Quellenlage insgesamt ein Bild der Grausamkeit im Detail. Gerade dieser konkretisierende Blick zeichnet die engagierte Autorin aus und macht diese gewiss knappe Darstellung im Sinne regionalgeschichtlicher Einzelforschung jenseits institutioneller Historiographie wertvoll. Sie ist ein erneuter Beleg dafür, dass es den Tätern des NS-Systems nicht gelungen ist, ihre Spuren auf Dauer zu beseitigen. Der Historiker "vor Ort" findet sie.

Ina Lorenz, Hamburg





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