ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrike Haerendel, Kommunale Wohnungspolitik im Dritten Reich. Siedlungsideologie, Kleinhausbau und "Wohnraumarisierung" am Beispiel Münchens (=Studien zur Zeitgeschichte, Band 57), R. Oldenbourg Verlag, München 1999, 458 S., geb., 128 DM.

Ulrike Haerendel beschäftigt sich in ihrer Untersuchung über "Kommunale Wohnungspolitik im Dritten Reich", die an der Universität München als Dissertation angenommen wurde, am Beispiel der "Hauptstadt der Bewegung" München mit einem der zentralen innenpolitischen Konfliktfelder des nationalsozialistischen Deutschlands, denn das Problem des Wohnungsmangels im Marktsegment der kleinen, preiswerten Stadtwohnungen begleitete die ganze Geschichte der NS-Diktatur. Die Versuche der NSDAP darauf zu reagieren, berührten deshalb zentrale gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte und Entwicklungsstränge. In ihrer Einleitung weist die Autorin gezielt auf diese Interdependenzen hin: Sie will Wohnungspolitik explizit "nicht als isoliertes Spezialgebiet, sondern als Teilfunktion des nationalsozialistischen Herrschaftssystems analysieren" (S. 22).

Die Untersuchung gliedert sich in vier Abschnitte. Einleitend skizziert die Autorin die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen der Wohnungspolitik in der NS-Zeit. Sie beschreibt dabei zum einen die strukturell eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten von Kommunalpolitikern im "Dritten Reich" und deren Versuche, über das "Hauptamt für Kommunalpolitik" und den "Deutschen Gemeindetag" lobbyistischen Einfluss auf das Handeln von Reichsregierung und Parteileitung zu gewinnen. Zum anderen wird der Leser über die Grundzüge der staatlichen Wohnungspolitik nach 1933 informiert: In Absetzung von der stark interventionistischen Praxis in diesem Politikbereich nach 1918 verstand die NSDAP die Wohnungswirtschaft als freien Markt. Sie strebte nach einer sich selbst tragenden Bauwirtschaft, die nicht auf direkte Finanzsubventionen der öffentlichen Hand angewiesen und staatlich nur in geringem Maße reglementiert sein sollte. Allerdings trug dieses im Detail vage und auch widersprüchliche Konzept keinen genuin nationalsozialistischen Charakter: Die NSDAP trat mit ihrer Wohnungspolitik nur das Erbe der konservativen Wende an, die bereits von den Präsidialkabinetten in den Jahren der Weltwirtschaftskrise nach 1930 vollzogen worden war. Im Vergleich zu den Hochjahren kommunaler Wohnungspolitik in der Phase der relativen Stabilität der Republik zwischen 1924 und 1929, in denen die Begriffe Neubau und kommunal geförderter Wohnungsbau nahezu identisch gewesen waren, fielen die wohnungsmarkt- und wohnungsbaupolitischen Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen deshalb im NS-Staat deutlich kleiner aus.

Der folgende Abschnitt über "Baupolitik und Wohnungsfürsorge im nationalsozialistischen München" bis zum Kriegsbeginn beschreibt detailreich und anschaulich, wie die Münchener Kommunalpolitiker - allen voran der rührige Wohnungsreferent der Stadt, Guido Harbers - auf diesem eng abgesteckten Feld agierten. Dabei wird deutlich, dass eigene Akzente in gewissem Umfang durchaus möglich waren. Haerendel belegt anhand der Geschichte einzelner städtischer Wohnungsbauprogramme die Spannung zwischen den politisch-ideologisch geprägten Vorgaben der Staats- und Parteiführung einerseits und den Ansprüchen der Praxis andererseits. Zunächst erschöpfte sich kommunale Wohnungsbaupolitik nach 1933 auch in München in Fortführung von Programmen aus den Jahren der Wirtschaftskrise weitgehend in der Realisierung von "Kleinsiedlungen", in denen erwerbslose Familien in primitiver Form und unter rigiden Kontrollen mit einem kleinen Haus und einem großen Garten versorgt wurden, um ihre Lebenshaltung durch Selbstversorgung zu verbessern. Gleichzeitig aber blieb die drängende Nachfrage nach innerstädtischen Kleinwohnungen und - mit Besserung der wirtschaftlichen Lage - auch nach einem gehobeneren Wohnungsangebot für mittelständische Haushalte unerfüllt.

Die Münchener Verwaltung versuchte pragmatisch auf diese Probleme zu reagieren. Es entstanden ein städtisches "Baulückenprogramm" sowie ein Kleinwohnungsbauprogramm, die den Mangel an preiswerten Ein- bis Drei-Zimmer-Wohnungen lindern sollten. Außerdem realisierte die Stadt mit durchaus riskanten finanziellen Manövern die "Mustersiedlung" Ramersdorf, in der die Primitivität der Kleinsiedlungen überwunden wurde, um diese Wohnform auch für den Mittelstand attraktiv zu machen. Alle drei Programme entfalteten jedoch nur eine begrenzte Wirkung. Die mit der zunehmenden Überwindung der Wirtschaftskrise stark steigende Nachfrage nach Wohnraum konnte das NS-Regime aus grundsätzlichen Gründen nicht befriedigen: Dazu wäre eine Abkehr von der zielstrebig realisierten "Kriegswirtschaft im Frieden" nötig gewesen, die mit den zentralen Zielen der NSDAP nicht vereinbar war. Haerendel arbeitet zudem deutlich heraus, wie stark die Münchener Wohnungspolitik von politisch und "rassisch" selektierenden Praktiken gekennzeichnet war, und geht dabei am Beispiel etwa der Hilfe für Obdachlose auch auf den Bereich der Wohnungsfürsorge ein.

Der vierte Teil der Darstellung behandelt die Kriegsjahre. Eindringlich beschreibt die Autorin die aktive Rolle der Stadtverwaltung bei der Vertreibung jüdischer Mieter aus ihren Wohnungen. Im Bereich des Wohnungsbaus erfolgte im Krieg eine weit gehende Entmachtung der Kommune, weil München als "Hauptstadt der Bewegung" nach den Plänen und Ideen Hitlers grundlegend umgestaltet werden sollte. Zugleich machte die nationalsozialistische Kriegswirtschaft dem Wohnungsbau praktisch ein Ende: Während sich Partei und Verwaltung in Planungen für die Zeit nach dem "Endsieg" ergingen, wurde neuer Wohnraum allenfalls noch in der Form des primitiven Behelfsheims erstellt. In einer knappen, aber dicht und überlegt argumentierenden Zusammenfassung ordnet Haerendel die Ergebnisse ihrer Lokalstudie in die Debatten der neueren Forschung über das Wesen der NS-Diktatur ein. Dabei betont sie noch einmal die rassenideologische Komponente als "Grundzug nationalsozialistischen Wohnungs- und Siedlungswesens": Der Rassenwahn prägte die Wohnungspolitik der Stadt München von den Anfängen der NS-Diktatur bis zu ihrem gewaltsamen Ende.

Ulrike Haerendels Dissertation beeindruckt sowohl durch die breite Quellen- und Literaturbasis als auch durch die Genauigkeit der Darstellung und die abgewogene Argumentation. Ihre Arbeit kann als ein Musterbeispiel für eine Lokalgeschichtsschreibung gelten, die gezielt den Anschluss an allgemeine historiographische Debatten sucht und die deshalb trotz der zunächst unweigerlich gegebenen begrenzten Bedeutung der am lokalen Beispiel gewonnenen Ergebnisse die Forschung insgesamt bereichert. Der anspruchsvolle Buchtitel, der den lokalen Bezug der Darstellung in den Hintergrund drängt, ist deshalb durchaus gerechtfertigt. Das Buch ist für jeden von Interesse, der sich für die Sozial- und Politikgeschichte des nationalsozialistischen Deutschland interessiert. Zu bedauern ist lediglich der vollständige Verzicht auf Abbildungen, denn Reproduktionen von Planzeichnungen und zeitgenössischen Fotografien der verschiedenen im Buch behandelten Bauprojekte (die mit Sicherheit in großer Zahl vorliegen) hätten die Darstellung noch anschaulicher machen können.

Karl Christian Führer, Hamburg





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Mai 2002