ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Mike Schmeitzner, Alfred Fellisch 1884-1973. Eine politische Biographie (=Geschichte und Politik in Sachsen, Band 12), Böhlau Verlag, Köln-Weimar-Wien 2000, 548 S., geb., 98 DM.

Die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialimus ist für den Freistaat Sachsen noch immer ein wenig bearbeitetes Feld. Zwar ist seit dem Jahre 1989 eine stattliche Anzahl von Untersuchungen entstanden, die sich mit der ersten Demokratie und ihrem Untergang beschäftigen, doch scharen sich diese zumeist um einige wenige Grundfragen sächsischer Geschichte, wie das Jahr 1923 und die Reichsexekution gegen die sächsische Linksregierung oder den rasanten Aufstieg der NSDAP im "roten Sachsen". Mit seiner Dresdner Dissertation über das Leben und Wirken Alfred Fellischs schlägt Mike Schmeitzner einen weiten Bogen und zeichnet vor dem Hintergrund eines über 70 Jahre andauernden aktiven und passiven politischen Engagements in fünf politischen Systemen ein Stück sächsischer und deutscher Geschichte nach. In einer Verbindung von Personalisierungs- und Personifizierungskonzept werden die Stationen eines Lebens verfolgt, das zumeist "regionale und repräsentative Züge" trug, jedoch für kurze Zeit (1919-1924) einen landesweiten Einfluss erlangte.

Geboren wurde Alfred Fellisch am 1. Juni 1884 in Frauenstadt (Posen) in eine sozialdemokratisch geprägte Arbeiterfamilie. Nach einer Lehre als Glacéhandschuhmacher und mehreren Ortswechseln siedelte er 1908 in das sächsische Johanngeorgenstadt über. Sein bereits zuvor begonnenes parteipolitisches Engagement, Fellisch war 1902 der SPD beigetreten, setzte er im 21. Wahlkreis fort. Noch vor Ausbruch des Weltkrieges wird der "vielbeschäftigte Nachwuchspolitiker" zum Berichterstatter der von Gustav Noske, Max Müller und Ernst Heilmann dominierten "Chemnitzer Volksstimme". Dort begann der eigentliche Aufstieg Fellischs, der ihn in den Kriegsjahren "immer mehr in eine innerparteiliche Schlüsselrolle" führte. Über eine Ersatzwahl gelangte Fellisch im Frühjahr 1918 in den sächsischen Landtag.

Mit den beginnenden Massenerhebungen in Sachsen ab dem 8. November 1918 wurde Fellisch zu einer der wichtigen Figuren der Revolution in Chemnitz. War Fellisch zunächst noch einem eher rechts orientierten Teil der MSPD zuzurechnen, so vollzog er im Laufe des Jahres 1919 "eine weithin sichtbare Kurskorrektur" hin zu einer weiter links anzusiedelnden mehrheitssozialistischen Position. In zunehmender Schärfe distanzierte er sich in der "Chemnitzer Volksstimme" von der Politik der Reichsregierung und seines "politischen Vaters" Noske, deren brutales Vorgehen bei der Besetzung von Chemnitz am 19. August 1919 ihn zusätzlich bestärkte. Einen Monat später, am 19. September, stellte Fellisch in einem Artikel der "Chemnitzer Volksstimme" die von ihm als "Chemnitzer Richtung" bezeichnete neue linke Plattform innerhalb der MSPD vor, die nun zunehmenden Einfluss auf Partei und Volkskammerfraktion erlangte und diese in einen linken, klassenkämpferischen Chemnitzer und einen rechten, staatstragenden Dresdner Flügel spaltete. Offensichtlich wurde der zunehmende Einfluss der "Chemnitzer Richtung" mit der Bildung eines sächsischen MSPD-USPD-Kabinetts, das unter Tolerierung durch die KPD mehr als zwei Jahre Bestand hatte und als dessen Architekt Fellisch von der bürgerlichen Presse bezeichnet wurde.

Fellisch selbst übernahm in dieser Regierung ab dem 1. Mai 1921 das Amt des sächsischen Wirtschaftsministers. Die Umsetzung seiner wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die deutliche planwirtschaftliche Züge trugen, scheiterte letztlich jedoch an der sozialökonomischen Krise, deren Auswirkungen er durch gezielte Fördermaßnahmen für den Freistaat zu lindern versuchte. Noch vor der Einbindung der KPD in die Regierungsverantwortung zeigte sich der beginnende Zerfall der "Chemnitzer Richtung" und der zunehmende Einflussverlust ihrer führenden Köpfe. Schmeitzner sieht die Gründe hierfür vor allem in einer inhaltlichen Schwäche und einem "offensichtlichen Unvermögen, nach der Vereinigung mit der USPD den eigenen Flügel sachsenweit zu konsolidieren". Träger einer neuen linken Richtung wurden nun jene, die sich unzweideutig für ein Bündnis mit der KPD aussprachen, das am 10. Oktober 1923 zustande kam. Fellisch machte, wohl freiwillig, den Posten des Wirtschaftsministers für den KPD-Funktionär Heckert frei.

Die Koalition aus SPD und KPD war letztlich nur von kurzer Dauer. Zwar wurde durch das Eingreifen der Reichsregierung Ende Oktober 1923 das sächsische "Experiment" beendet, doch konnte mit der Bildung einer Regierung unter der Führung Fellischs die von der Reichswehr und dem Reichskommissar beabsichtigte Ausschaltung der Sozialdemokratie aus der Regierungsverantwortung verhindert werden. Der nur achtwöchigen Existenz des Gesamtministeriums Fellisch misst Schmeitzner daher große Bedeutung auf dem Weg hin zu einer stabilen Großen Koalition bei. "Trotz ihrer knapp bemessenen Existenz erhält die Ministerpräsidentschaft Fellisch ihren besonderen historischen Stellenwert dadurch, dass sie eine wichtige politisch-parlamentarische Übergangsphase zwischen Nachkriegskrise und Stabilisierungsperiode bildete".

Für Fellisch markierte das Ende seiner Ministerpräsidentschaft Anfang Januar 1924 auch einen langsamen Abschied von der "großen Politik". Im Juni 1924 wurde er zum Amtshauptmann von Großenhain berufen. Zwar blieb er noch als Vorsitzender des Rechtsausschusses im sächsischen Landtag für einige Zeit aktiver Gestalter, doch wurde sein parlamentarisches Engagement durch seinen eigenen Bezirk beendet, der ihm 1926 eine erneute Nominierung für die Landtagswahl verweigerte. Fellisch blieb nun auf seine Tätigkeit als Leiter der amtshauptmannschaftlichen Verwaltung beschränkt, die er bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise erfolgreich gestaltete. Durch den Tod seiner Frau seelisch tief getroffen und "verzweifelt gegen eine fortschreitende innere Selbstaufgabe" kämpfend, wurde er 1932, noch vor der nationalsozialistischen Machtübernahme aus dem Dienst entlassen.

Die Zeit des Nationalsozialismus verbrachte Fellisch an verschiedenen Wohnorten. Nach dem Entzug der Pension aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums war er zunächst für wechselnde Arbeitgeber tätig, ehe er, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, bei einer Dresdner Schreibmaschinenfabrik als kaufmännischer Angestellter unterkam, wo er bis in das Jahr 1945 verblieb.

Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus betätigte sich Fellisch zunächst bei der im unbesetzten westerzgebirgischen Schwarzenberg erscheinenden "Schwarzenberger Zeitung". Über eine Tätigkeit als Regierungsrat beim Landratsamt Stollberg und als Landrat in Annaberg fand Fellisch in die Politik des Freistaates zurück. "Durch die Tiefe der Zäsur, die ’sozialistisch’-sowjetische Besatzungsherrschaft und die Dominanz der kommunistischen Partei beeindruckt, erblickte Fellisch in der Entwicklung der SBZ und Sachsens eine Realisierung seiner ‘Chemnitzer’ Vorstellungen". Als Staatssekretär im sächsischen Ministerium für Wirtschaft und Arbeit und ab 9. April 1948 als Minister, war Fellisch wieder an die Spitze des Ressorts zurückgekehrt, das er vor annähernd 25 Jahren schon einmal geführt hatte. Nach längerer Krankheit, diskreditierenden Beurteilungen seiner Amtsführung und persönlichen Angriffen bat er im März 1949 um seine Entlassung. Danach war Fellisch bis 1952 als Direktor der Sächsischen Landesbibliothek tätig, bevor er in den Ruhestand eintrat und sich nur mehr im kommunalen Bereich, als Funktionär des Kulturbundes, engagierte. Eine zunehmend kritische Haltung ließ ihn in das Visier der Staatssicherheit geraten, die ihn bis in die 60er Jahre observierte. Alfred Fellisch starb am 4. März 1973 in Radebeul bei Dresden.

Andreas Wagner, Leipzig





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