ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

John C. G.Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, C. H. Beck Verlag, München 2001, 1437 S., geb., 78 DM.

Die Anzahl der Biographien Wilhelms II. ist nicht gering. Doch die wenigsten sind quellenmässig wirklich fundiert. Der englische Historiker Röhl hat den zweiten seines auf drei Bände angelegten Werkes vorgelegt, über das das Urteil, es sei quellengesättigt, eine Untertreibung ist. Nach wichtigen Veröffentlichungen zum wilhelminischen Deutschland (u.a. Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, 2. Aufl. 1995) und dem 1993 erschienenen ersten Teil der Biographie des Kaisers hat sich der Autor nunmehr auf den "Aufbau der Persönlichen Monarchie", das Mittelstück seines Oeuvre, konzentriert.

Unzweifelhaft tritt damit seine Intention, eine politische Biographie zu verfassen, deutlich hervor, wenngleich die Darstellung von Anfang bis Ende auch die bedeutendsten Entwicklungen, Entscheidungen und Wendepunkte des Kaiserreichs berührt. Dies geschieht jedoch vorrangig aus der Perspektive des Kaisers. Man tut gut daran, nicht zu erwarten, dass der Verfasser ein neues Bild des Deutschen Reiches am Ende des 19. Jahrhunderts bietet, auch wenn er in dieser Hinsicht auf Ergebnisse der jüngeren Forschung eingeht (Stegmann,Winzen, Berghahn, Kennedy, Nipperdey u.a.) bzw. auf eigene Untersuchungen zurückgreifen kann (z. B. Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise im Zweiten Kaiserreich 1890-1900, 1969). Der enge Wechselbezug zum Forschungsstand wird aber erst deutlich, wenn man die breite, von Röhl selbst erschlossene Quellenbasis in den Blick nimmt, vor allem die Politische Korrespondenz Philipp Eulenburgs (3 Bde., 1976/83). Der Autor geleitet den Leser anhand englischer Archivalien, so aus den Royal Archives Windsor, und des von ihm erstmals ohne Einschränkung ausgewerteten Nachlasses des Grafen Waldersee, ferner der Korrespondenzen Herbert Bismarcks und der Geheimen Papiere Holsteins (nicht der inhaltsreichen Hatzfeldt-Papiere, die er unverstädlicherweise kaum heranzieht) durch das Ereignisgeflecht der 1890er Jahre.

Es sind dies die Standard-Komplexe: Kanzlerkrise und Bismarcks Sturz, Einflussnahme der englischen Verwandtschaft auf den Hof , die militärische Entourage, die "Säulen der Macht", die Kanzler bis 1900, das bedeutsame Jahr 1896 mit seinem "Durchbruch zur unumschränkten Entscheidungsgewalt" und damit der Ausbau der Persönlichen Monarchie – einer der Sache nach angemesseneren Umschreibung des Herrschaftsanspruchs anstelle des "persönlichen Regiments". Kontinental-, Welt- und Flottenpolitik schließen den Band ab. Minutiös und umsichtig, dabei oft unter Verzicht auf ein eigenes Urteil im Einzelnen zeichnet Röhl die Phasen und Konflikte nach, ergeht sich oft in zu langen Zitaten, gelegentlich sogar zweisprachig. Man vermisst Zusammenfassungen, vor allem eine Bündelung der jeweiligen Fragestellung zu Beginn eines Abschnitts – ein Aspekt bzw. ein Anreiz, der spätestens seit Hans Berd Gisevius (Der Anfang vom Ende. Wie es mit Wilhelm II. begann, 1971) nahe gelegen hätte.

Röhl arbeitet mit aller wünschenswerten Klarheit die Schwerpunkte der politischen Biographie des Kaisers heraus: dynastisches Selbstbewusstsein, Feindschaft gegen Reichstag, Parteien, besonders SPD und Zentrum, Bereitschaft zum Staatsstreich, zeitweise zur Abschaffung des Reichstags ("...wenn es zum Schießen kommen muß, so werden Sie es gründlich thun", zum ehemaligen Generalstabschef Waldersee, S. 949). Die Arbeiterbewegung diffamierte der Kaiser als "Pest" (S. 940). Seine Umgebung, besonders Waldersee, Bülow und Eulenburg, um nur die wichtigsten zu nennen, wurde konfrontiert mit dem wachsenden irrationalen Überlegenheitsbewusstsein, dem nicht unterdrückten Starrsinn, der Rücksichtslosigkeit und öffentlich vorgetragenen Verachtung des Bürgertums und der unteren Gesellschaftsschichten. Röhl spricht mit Recht vom "diabolischen Einfluss" Waldersees (S. 339).

Zu wenig beachtet Röhl freilich die Resonanz auf die öffentlichen Bekundungen des Kaisers in der Gesellschaft – von den bekannten Ausnahmen (Hunnenrede und dergleichen) abgesehen . Die Brandenburger Rede vom 26.2.1897, in der Bismarck und Moltke – nach Röhl – als "Handlanger" Wilhelms I. und als "Pygmäen" abqualifiziert wurden (so nicht bei Penzler, Reden Wilhelms II., auf den der Autor sich beruft), rief auch im Ausland ein langanhaltendes Echo hervor. Des Kaisers rückwärtsgewandte Hohenzollernideologie (Siegesallee in Berlin) und seine absolutistische Herrschaftspraxis mit der ständigen Selbststilisierung gipfelten in der kaum überbietbaren Formulierung: "Für immer und ewig gibt es nur einen wirklichen Kaiser in der Welt und das ist der Deutsche Kaiser, ohne Ansehen seiner Person und seiner Eigenschaften [...] und sein Kanzler hat zu gehorchen" (1898 an seine Mutter 1898, S. 968).

Hinzu kamen die latente und manifeste Katholiken- und Judenfeindschaft sowie die Zuchthausvorlage gegen den "sozialdemokratischen Terrorismus", ferner der eingefahrene und damit selbstverständliche Byzantinismus am Hof und in der Regierung, der vollkommen fehlende Spürsinn in der Außenpolitik, die emotionale Unbeherrschtheit und die arrogante Großtuerei, die "uferlosen Flottenpläne", von Tirpitz im Schlachtflottenbau realisiert. Der "Alliancewert Deutschlands" wurde damit bewusst von der Armee auf die Marine verlegt (!). All dies rief nicht nur tiefgreifende Besorgnisse, sondern bohrende Zukunftsängste hervor. Eulenburgs Briefe an Bülow belegen die schreckenerregende Abnormalität des Kaisers (S. 1139-69). Eulenburg: "Er gehört nicht in unser Zeitalter." – "Seine Lage wird nach innen immer prekärer – und nach außen immer glänzender" – "Ich habe das Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen." – Leibarzt Leuthold: "Traumwelt", "Phantom" (S. 1165-68). "Die Objektivität ist völlig verloren, die Subjektivität reitet auf einem beißenden und stampfenden Rosse", so Eulenburg. Und hellsichtig: "Es ist ein abscheuliches Abwarten irgend einer Krise und alle, die hier an Bord sind, warten mit ihm" (S. 1169). Bezüglich einer Geisteskrankheit schließt Röhl an die Bemerkung Lord Eshers über "schlechtes Blut" und den "Makel Georges III. in seinem Blut" Vermutungen z.T. recht unsicherer Art an – unter Verwendung von Schriftstücken englischer Provenienz (S. 1169-82).

Insgesamt ein voluminöses Werk, das Materialien und Anregungen enthält für weiterführende Studien zum Wilhelminismus-Thema, zuletzt präsentiert in Volker Berghahns "Imperial Germany, 1871-1914. Economics, Society, Culture and Politics" (1995). Man darf auf Röhls dritten Band gespannt sein.

Michael Behnen, Göttingen




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