ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Abigail Green, Fatherlands. State-Building and Nationhood in Nineteenth-Century Germany. Cambridge University Press, Cambridge, UK 2001; 386 S., kart., 45 £.

Abigail Greens Studie über nation building-Prozesse und die Erfindung der Nation am Beispiel von Hannover, Sachsen und Württemberg zwischen Wiener Kongreß und Reichs-gründung ist eine grundsolide Forschungsarbeit. Sie sollte beim deutschen Leser im Hinblick auf grundsätzliche Fragen des Inhalts und der Forschungsorganisation einige Nachdenk-lichkeit zurücklassen, wobei das Inhaltliche vom Forschungsorganisatorischen – hier zu verstehen als die schlichte Frage, wer sich warum für welche historischen Themen interessiert und dieses Interesse dann in wohlfundierte Studien umsetzt – nicht zu trennen ist. Der inhaltliche Ansatz der Autorin ist fast zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der englischen Erst-ausgabe von Benedict Andersons Grundlagenwerk "Imagined Communities" naheliegend: sie überträgt Andersons interpretatorisches Angebot von der Erfindung der Nation – das ja im Kern nichts anderes darstellt als eine zeitgemäße, nicht eurozentristische Neufassung der sozial-kommunikativen Schule der Nationalismusforschung von Karl Wolfgang Deutsch – auf drei deutsche Mittelstaaten des Wiener Systems. Daß es sich bei diesem überschaubaren methodischen Rahmen um intelligente Anwendungsforschung handelt, sei hier ohne jeden implizit abwertenden Unterton festgestellt: ein universalistisches Fach wie die Geschichts-wissenschaft braucht nicht nur die großen interpretatorischen Würfe und konzeptionellen Visionen, sondern auch und sogar in erster Linie die gründliche und mühsame empirische Tatsachenforschung an den Quellen. Nur auf diese Weise werden Großthesen wie die Andersons für Forschung und Lehre handhabbar gemacht und/oder, auch das sollte betont werden, möglicherweise widerlegt, jedenfalls aber durch den Prozeß der Aneignung differenziert.

Bleiben die Fragen, warum sich eine Cambridge-Historikerin dieses reizvollen und perspek-tivenreichen Themas mit Erfolg angenommen hat, und warum diese Arbeit nicht längst von einer Schülerin oder einem Schüler eines deutschen sozialgeschichtlichen Großordinarius in Angriff genommen wurde, warum nicht einer dieser Großordinarien diesen Ansatz in ein größer angelegtes Forschungsprojekt umzusetzen verstanden hat, das sich nicht nur auf drei deutsche Mittelstaaten beschränkt, sondern gleich alle in den Blick nimmt? Wer hier an Zufall glaubt, unterschätzt die enorme Aggressivität, mit der noch vor gar nicht so langer Zeit die deutsche sozialgeschichtliche Rechtgläubigkeit gegen Alltags- und Mentalitätsgeschichte, gegen die Biographie an sich und gegen viele vermeintlich allzu marginalen Bindestrich-Geschichten wie z.B. Kirchengeschichte, überhaupt gegen jede nicht im Sinne Wehlers "theoriegeleitete" Forschung verteidigt, formiert und gegenüber der internationalen Forschung erstaunlich weit isoliert wurde. Wer das auch als Problem der Kommunikation zwischen Historikergenerationen bedenkt, wird sich über den wie auch immer zu bewertenden kulturhistorischen Klimawechsel weniger wundern. Unabhängig davon ist nicht zu übersehen, daß es manchen "trendigen" Kulturhistorikern offensichtlich leichter fällt, sich durch so höfliche wie unverbindliche Hinweise auf die ’grundlegende’ Bedeutung von Anderson und Gellner aus der Affäre zu ziehen als selbst Schweiß in der Grundlagenforschung zu vergießen.

In acht Kapiteln arbeitet Abigail Green das Anderson-Gellnersche Programm der Identitäts-erzeugung mustergültig ab: nach einer plausiblen Begründung, warum sie die von ihr gewähl-ten Beispielsfälle heranzieht – exemplarisch nicht-preußische, Süd- und Norddeutschland erfassende Modernisierungsfälle älterer, aber sehr verschiedener Dynastien mit neuen natio-nalisierenden Integrationsstrategien im Sinne von Andersons "offiziellem Nationalismus" – beschreibt und vergleicht sie die Modernisierungsstrategien der Monarchie. Die folgenden sechs Hauptkapitel "Cultures of Fatherland", "Propaganda", "Educating Patriots", "Communications", "Imagined Communities" und "Nationhood" sollte man tatsächlich zu Andersons Kapiteln "Kulturelle Wurzeln", "Ursprünge des Nationalbewusstseins", "Der Engel der Geschichte", "Zensus, Landkarte und Museum" sowie "Erinnern und Vergessen" parallel lesen. Die archivische Fundierung und die Literaturarbeit sind exzellent: Greens Darstellung muß bis auf weiteres als Kompendium für die von ihr gewählten Beispielsfälle angesehen werden. Besonders hervorzuheben ist, daß die Autorin in ihrem den Eisenbahnbau behandelnden Kapitel "Communications" (S. 223-266) eben nicht der Versuchung erliegt, das in erster Linie wirtschaftliche Phänomen allein unter dem Gesichtspunkt sozialer Kommuni-kation zu interpretieren, sondern vielmehr geschickt "harte" sozio-ökonomische und "weiche" sozio-kulturelle Faktoren in ihrer Widersprüchlichkeit darstellt, z.B., indem sie zeigt, daß die Linienplanung in der Wahrnehmung der Akteure sowohl am shareholder value als auch am nation building orientiert sein konnte.

Alles in allem liegt hier eine Modellarbeit vor, die nicht nur die Nationalismusforschung bereichert, sondern vor allem als Anregung für eine common sense-orientierte Synthese sozial- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen verstanden werden kann.

Rolf-Ulrich Kunze, Frankfurt am Main





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Mai 2002