ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Klaus von See, Freiheit und Gemeinschaft. Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2001, 212 S., kart., 20 EUR.

Für die vergleichende interdisziplinäre Nationalismusforschung ist es ein großer Gewinn, dass Klaus von Sees zuerst 1975 unter dem Titel "Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914" erschienene Essaysammlung zur völkisch-nationalen Identitätsentwicklung nun in einer ergänzten und überarbeiteten Form wieder verfügbar ist. Vollkommen zu recht weist der Autor darauf hin (S. 7 und 12 f.), dass das heutige, nun endgültig nicht mehr von dogmatischen Marxisten beherrschte oder auch nur beeinflusste Diskursklima in den Geisteswissenschaften einer derartigen Querschnittarbeit wesentlich günstiger ist, als das vor fünfundzwanzig Jahren der Fall gewesen war. Die breite Rezeption u.a. von Andersons nicht exklusiv, sondern integrativ angelegtem Konstruktivismus in allen mit Fragen der Erfindung von Identitäten befassten Disziplinen lässt die einstmaligen dialektisch-materialistischen Bemühungen um die Degradierung von Nationalismus und völkischem Denken zu Überbau-Phänomenen bestimmter Phasen der Kapitalismuskrisengeschichte als das erscheinen, was sie tatsächlich immer schon waren: So hoch ideologische wie quellenferne Mythenbildung, die selbst ein Anwendungsbeispiel für die Macht des intellektuellen Identitätsproblems ist.

In 21 Kapiteln geht Klaus von See der Frage nach, unter Berücksichtigung welcher Elemente die Erfindung und völkische Formierung einer deutschen Identität zwischen 1789 und 1914 erfolgen konnte; u.a. interessiert ihn, wie die Frontstellung zwischen dem Assoziations-komplex der "Ideen von 1789" und dem der "Ideen von 1914" entstand und aus welchem geistigen Arsenal gemeinsam geteilter, unstrittiger Überzeugungen und kollektiver Bilder – jenem Inbegriff der für das nation building nach Karl W. Deutsch konstitutiven sozialen Kommunikation – sich z.B. Werner Sombarts Unterscheidung von "Händlern und Helden" von 1915 bediente? Von See schärft den Blick dafür, dass sich im Bereich des völkisch-nationalen Denkens im 19. Jahrhundert nichts von selbst versteht, sondern dass viel mehr nach den Konstruktionsprinzipien und Mustern dieses Denkens zu fragen ist: "Freilich sind die ’Ideen von 1914’ [...] nicht nur ein spontanes Produkt der Augusttage des Jahres 1914, sondern der auf die kürzeste Formel gebrachte Ausdruck einer Anschauung, die sich während der vier Menschenalter zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg allmählich herausbildete [...]" (S. 11). Die antiwestliche Konstruktion einer "germanisch-freiheitlichen" Identität und die damit einhergehende Abgrenzung von "1789" sei, so von See, keineswegs zwangsläufig gewesen, wurde doch gerade die Französische Revolution von deutschen Zeitzeugen auch ausdrücklich als Manifestation "germanischen" Freiheitsstrebens gesehen (S. 16 f.). Auch die Identifizierung des organologischen mit dem völkischen Gedankens in der Wendung gegen "1789" sei Ausdruck einer bewussten interpretatorischen Aneignung: Auch die französische Aristokratie des ancien régime habe sich organologischer Argumente zur standesbewussten Rechtfertigung der Begrenzung absolutistischer Königsmacht bedient. Die deutschen Erfahrungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließen die schon von den Humanisten in die Germania von Tacitus hineingelesene Völkercharakterologie – der "Germane" als "Antityp des Römers, [...] bieder, treu, gemütvoll, eingebunden in größere Gemeinschaften, in Volk, Sippe und Gefolgschaft [...], weil der Römer juristisch-advokatisch und ökonomisch-händlerisch begabt, nüchtern und individualistisch ist" (S. 13) – für die an eine mittlerweile hoch entwickelte politische Lese-Öffentlichkeit gerichteten Sinnproduzenten und Multiplikatoren besonders attraktiv erscheinen. Das ursprünglich anti-römische Denkmuster konnten sie nun zunächst antiromanisch erweitern und dann antiwestlich verallgemeinern. Klaus von See gehört zu den wenigen deutschen Identitäts- und Nationalismusforschern, die in diesem Kontext die volle Tragweite der konfessionellen Frage für die deutsche Entwicklung erkannt haben: Der ideologische Kampf gegen den Westen nach außen fand seine Entsprechung im Kampf den "Ultramontanismus" nach innen. Im nächsten Schritt erfolgte dann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die rassistische Aufladung: "Das Germanische geht allmählich im Arischen, [...] auf, das Römische im romanischen und romanisierten Westeuropa, das schließlich mehr oder weniger mit dem Judentum gleich gesetzt wird" (S. 14).

In seinen Essays behandelt von See u.a. die organologische Staatslehre Adam Müllers, die Verbindung von völkisch-organologischem und radikaldemokratischem Denken bei Karl Follen und Ludwig Börne, die Etablierung eines eigenständigen germanisch-deutschen Freiheitsbegriffes bei Heinrich von Treitschke, die "Ideen von 1870/71" unter dem Aspekt der Militarisierung des öffentlichen Lebens und Aufwertung des "Staates", die Anfänge der "Volk-ohne-Raum"-Ideologie in Felix Dahns Romanen, Otto von Gierkes Vorarbeiten zum Bürgerlichen Gesetzbuch und den Kampf gegen das humanistische Gymnasium.

Ein zusammenfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis hätte die Benutzerfreundlichkeit noch erhöht. Aber auch so hat von Sees Arbeit bis auf weiteres den Rang eines Standardwerks.

Rolf-Ulrich Kunze, Frankfurt am Main





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