ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.), Die friedliche Revolution 1989/90 in Sachsen-Anhalt, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2000, 213 S., brosch., 24,80 DM.

Der vorliegende knappe Band, den Hermann-Josef Rupieper herausgegeben hat, ist entstanden aus Beiträgen zu einer Tagung, die zehn Jahre nach der DDR-Revolution an der Universität Halle durchgeführt worden ist. Sie wurde von der Landeszentrale für politische Bildung in Magdeburg unterstützt und diente gleichzeitig der Lehrerfortbildung. Sie war deshalb nicht nur eine wissenschaftliche Tagung, sondern verfolgte auch einen politischen Bildungsauftrag. Wie es kaum anders sein kann, breitet der Band deshalb vor allem Bekanntes aus. Das ist kein Nachteil. Gravierender ist, dass der Titel der Veröffentlichung einigermaßen in die Irre führt. Nur einer der 14 Regionalbeiträge beschäftigt sich mit Magdeburg, der heutigen Hauptstadt des Landes Sachsen-Anhalt, obwohl der Verlauf der Revolution dort recht dramatisch verlief. Nur ein weiterer Beitrag befasst sich mit der Stadt Weißenfels im Bezirk Halle, die anderen konzentrieren sich auf die Revolution in der Stadt Halle.

Zunächst liefert Steffen Alisch einen Rückblick auf den SED-Staat, betont die Herrschaft der Partei, die durch das Überwachungssystem und das Meinungsmonopol abgesichert war, und gibt noch einmal einen Überblick über den nur mühsam verschleierten ökonomischen Zusammenbruch. Im Blickwinkel von Ehrhart Neuberts Betrachtung der unterschiedlichen oppositionellen Bewegungen liegt ebenfalls die gesamte DDR und nicht nur Sachsen-Anhalt. Den Band dominieren dann die Erlebnisberichte der Oppositionellen selbst. Am eindrucksvollsten sind die Berichte von Günter Buchenau über die Evangelische Kirche in Halle und von Katrin Eigenfeld über das Neue Forum. Günter Buchenau war 1989/90 Superintendent und Moderator des Runden Tisches, Katrin Eigenfeld die vielleicht prominenteste Persönlichkeit der Opposition in Halle und Mitbegründerin des Neuen Forums. Ihre Darstellungen werden durch zahlreiche, z. T. sehr knappe Berichte ergänzt. Claus Herold unterrichtet über die katholische Kirche, die sich vor 1989 in der Unterstützung der oppositionellen Gruppen relativ zurückhielt, vielleicht, weil sie als einzige gesellschaftliche Gruppierung in der DDR noch an der Pauschalforderung der Wiedervereinigung fest hielt. Lothar Tautz stellt den relativ aktiven und lebendigen Arbeitskreis "Solidarische Kirche" in Weißenfels vor. Andere Beiträge beschäftigen sich mit einer Gruppe christlicher Mediziner in Halle, mit der ökologischen Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Halle, mit einer Gruppe "Frauen für den Frieden", mit weiteren Hallenser Friedensgruppen und ihrer Unterwanderung durch die Stasi, mit den Widerständigkeiten und Unangepasstheiten der bildenden Künstler und mit der "Reformzeitung" in Halle, welche eine Einlage in der SED-Zeitung "Freiheit" war, mit der sich die neu gegründeten oppositionellen Gruppen im Januar, Februar und März 1990 Gehör in der Bevölkerung zu verschaffen suchten. (Dass eine solche Beilage auch den Weiterbetrieb des SED-Organs ermöglichte, ist dem Berichterstatter Klaus Keitel schmerzlich bewusst geworden.) Schließlich berichten zwei Beiträge über die Revolution an der Universität, wobei sich der eine, durch zahlreiche Dokumenten ergänzt, auf den Bereich Medizin konzentriert. Die Revolution an der Universität verdeutlicht, dass nicht nur in der staatlich-politischen Sphäre um die Macht gerungen werden musste, sondern auf allen Ebenen. Ähnliche Auseinandersetzungen fanden in jeder Kleinstadt, in jedem Dorf, in jedem größeren Betrieb statt. Die SED verteidigte relativ zäh ihre Positionen, wenn auch, da es keine Parteilinie mehr gab, mit unterschiedlichen Taktiken.

Georg Wagner-Kyora liefert schließlich eine kluge Zusammenfassung der Entwicklung bis zum Durchbruch der Revolution mit dem Mauerfall (und in Halle mit dem Rücktritt des 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED) und Rupieper gibt einen kenntnisreichen Überblick über die schwierige Forschungslage bezüglich der Runden Tische im Bezirk. Beide Beiträge machen dabei implizit auch gewisse Defizite der Veröffentlichung deutlich. Wir erfahren fast nichts über die Revolution im Bezirk Magdeburg, es fehlen Berichte über die Revolution in den Kleinstädten, in den Dörfern, in den Betrieben (der Bericht aus Weißenfels endet im Oktober/November 1989), und es gibt keine zeitliche Synchronisation (einige Berichte führen bis an den Vorabend der Revolution, andere setzen erst mit der Gründung der Runden Tische oder gar erst im Januar 1990 mit der "Reformzeitung" in Halle ein).

Schließlich wird ein weiteres, aber wohl besonders schwer zu behebendes Manko deutlich. Katrin Eigenfeld schreibt in ihrem Beitrag: "Wir trieben die Auflösung der Staatssicherheit voran, initiierten Runde Tische, organisierten Aktionen und versuchten uns in freier Pressearbeit. Hilflosigkeit setzte bei mir erst ein, als die Rufe auf den Demonstrationen nach dem einen Deutschland lauter wurden. Aus ‚Wir sind das Volk‘ wurde ‚Wir sind ein Volk‘. Auf ein wiedervereinigtes Deutschland waren wir nicht vorbereitet" (S.89). Die Vertreter dieser Zweiten, in ihrer Zielsetzung radikaleren Phase der Revolution, die ein erneutes sozialistisches Experiment ablehnten, die Zustände wie im Westen einforderten und deshalb im März die Parteien wählten, die die Namen der aus dem Fernsehen bekannten westdeutschen Parteien trugen, diese Menschen sind noch stumm. Sie zu Wort kommen zu lassen, wird einigen Forschungsaufwand erfordern.

Trotzdem kann man der Veröffentlichung für die politische Bildung nur Erfolg wünschen.

Gerhard Schildt, Braunschweig





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