ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jens Becker, Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, VSA, Hamburg 2001, 511 S., kart., 58 DM.

Als die stalinistische KPD-Führung Ende 1928 die so genannten Rechten um Heinrich Brandler, Vorsitzenden von 1921 bis 1924, aus der Partei warf, entfernte sie die letzte nennenswerte Gruppe alter Spartakisten. Nicht zufällig stützte sich Stalin eher auf eine jüngere Generation von Parteikadern, die ihre ersten politischen Erfahrungen in der USPD - besonders ab 1918 - gemacht hatte. Damit wurde deutlich, dass der Stalinismus der von der linken Vorkriegs-SPD über die Anti-Kriegs-Opposition zur KPD in ihren Anfangsjahren reichenden Traditionslinie eine klare Absage erteilte. Bisher gab es neben einer Reihe von Darstellungen der "Rechts"-Opposition biografische Veröffentlichungen vor allem zu ihrem Theoretiker August Thalheimer, der schließlich ein umfangreiches theoretisches (und damit schriftlich fassbares) Erbe hinterlassen hat. Nun legt der Frankfurter Politikwissenschaftler Jens Becker eine - auf seiner Dissertation beruhende - längst "überfällige Untersuchung" (so Klaus Fritzsche im Vorwort) zu Heinrich Brandler selbst vor.

Heinrich Brandler wurde 1881 nahe der sächsischen Grenze im damaligen Deutsch-Böhmen in einer Arbeiterfamilie geboren, deren materielle Lage prekär war und die er darüber hinaus noch als Kind verlor. Die persönlichen Umstände verstärkten jedenfalls seinen rebellischen Geist. In nicht untypischer Weise für das "proletarische Milieu" jener Zeit wuchs er als gelernter Maurer in die Arbeiterbewegung hinein und erlitt dafür sogleich zum ersten Mal Repressionen. Die weiteren Jahre waren zunächst durch Wanderschaft durch Deutschland bis in die Schweiz gekennzeichnet: Sein Engagement in den verschiedenen Zweigen der Arbeiterbewegung eröffnete ihm Chancen, die ihm die kapitalistische Gesellschaft nicht gewährt hatte: Er erwarb sich politische Erfahrung und Bildung. Im Privatleben wurde er ein "Homo politicus", für den es außerhalb der Politik wenig von Bedeutung gab. Unter diesen Umständen wurde er am Vorabend des Ersten Weltkriegs hauptamtlicher Funktionär der Bauarbeitergewerkschaft in Chemnitz. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass dieser Ort eine Hochburg des Spartakusbundes und dann der KPD wurde. Nach 1919, insbesondere nach der Ermordung der ersten Führungsgruppe der Partei, gelangte er fast automatisch in eine Führungsposition. Aus der Gewerkschaftsarbeit zog er sich damit zurück. Doch als Parteistratege wurde das Bemühen um eine breite Arbeiterpolitik, um die Herstellung der Einheitsfront, wie es bald hieß, zu seinem "Markenzeichen". Gerade deshalb ist es umso überraschender und nur aus besonderen Umständen – vor allem der Intervention durch Moskauer Abgesandte – zu erklären, wie Becker zurecht hervorhebt, dass seine ersten Aktivitäten als neu gewählter Parteivorsitzender im Februar 1921 in der putschistischen Märzaktion bestanden. Dadurch zum (ersten) Exil in Moskau gezwungen, konnte er nach seiner Rückkehr der Partei 1922 wieder breiten Masseneinfluss sichern. Höhepunkt seiner Parteiführerschaft sollten die Bemühungen während der Krise des Jahres 1923 um einen "deutschen Oktober" sein, an den er allerdings auch wieder mehr getrieben als aus eigener fester Überzeugung herangegangen war. Deswegen brach er im letzten Augenblick die Kämpfe ab und übernahm damit die Verantwortung für die Niederlage.

Von seinen innerparteilichen Gegnern wurden er und seine Weggefährten flugs zu "Rechten" erklärt, die den Massen hinterherhinkten statt voranzumarschieren. Sie mussten als Sündenböcke herhalten und wurden abgesetzt. Von nun an waren die Parteiführungen mehr und mehr von Moskau abhängig, Kreaturen der Komintern und dann Stalins. Brandler und seine Genossen hatten mit Moskau noch in gleicher Augenhöhe verhandeln können. Das war eine Frage der politischen Sozialisation, die sie noch vor dem Ersten Weltkrieg erfahren hatten. Nicht zufällig waren Stalin wie Trotzki Jahrgang 1879, damit nur zwei Jahre älter als Brandler.

Die folgenden vier Jahre waren die Zeit eines erneuten, diesmal durch die Partei verhängten Exils in Moskau und damit der politischen Isolierung von Deutschland, wohin er aber weiterhin Kontakt zu Gesinnungsgenossen hielt. Es gelang ihm 1928 zurückzukehren und die "rechten" Kommunisten zu sammeln. Die KPD-Führung um Thälmann schloss sie aus. Brandler und die KP-Opposition (KPO) waren nun an den Rand der organisierten Arbeiterbewegung gedrängt. Mit dem Gepäck an theoretischer Schulung und politischer Erfahrung im Rücken bemühte man sich immer wieder um Einheitsfrontinitiativen, oft in Zusammenarbeit mit den anderen, aus den beiden Arbeitermassenparteien ausgeschiedenen linken "Zwischengruppen". Doch konnte dies den Sieg der Nazis und damit den Weg ins Exil oder den Widerstand nicht verhindern.

Als großes Problem Brandlers und seines Theoretikers Thalheimer erwies sich aber die Erarbeitung einer Einschätzung der Sowjetunion. Noch bis 1937 machte man sich trotz der eigenen Erfahrung in den innerparteilichen Kämpfen Hoffnungen, irgendwie letztlich doch zu einem Ausgleich mit der Stalin-Führung gelangen zu können, deren Innenpolitik irgendwie erfolgreich zu sein schien. Diese Einschätzung änderte sich erst mit der Verfolgung von KPO-Kader 1937 im spanischen Bürgerkrieg wie mit den Prozessen gegen ehemalige Weggefährten Brandlers. Brandler und Thalheimer überlebten den Zweiten Weltkrieg durch die Flucht nach Kuba. Aus den überlebenden Kadern der vor 1933 mehrere Tausend Mitglieder zählenden KPO bildete sich zwar erneut eine – noch heute existierende - Gruppe, zu der Brandler 1948 stieß. Doch das Hochkonjunktur-Klima der Adenauer-Ära sowie die politische Repression in der DDR machten es unmöglich, einer von Moskau unabhängigen kommunistischen Bewegung eine breitere politische Unterstützung zu verschaffen, selbst wenn Brandler bis zu seinem Tod im Jahre 1967 trotz aller realistischer Einschätzung der Niederlagen von einem ungebrochenen Optimismus gekennzeichnet blieb. Insgesamt jedenfalls zeigte Brandler, worauf Becker in seinen Schlussbemerkungen zurecht verweist, gegenüber zahlreichen seiner zeitweiligen Weggefährten in seltener Weise eine Konsequenz, mit der er seinen einmal beim Eintritt in die Arbeiterbewegung gewonnenen Überzeugungen treu blieb, ohne Rücksicht auf die ihm daraus immer wieder erwachsenden Nachteile. Dass ihm das genauso gut den Vorwurf der Starrheit, der Unbelehrbarkeit oder des Dogmatikers einbringen musste, nahm er in Kauf.

Becker hat für seine detailreiche Rekonstruktion des Lebens Brandlers umfangreiche Recherchen durchgeführt. Vor allem sind die ehemaligen Archive der Komintern und der SED zu erwähnen sowie KPO-Nachlässe in Kopenhagen. Mehrere Zwischenergebnisse zu einzelnen Aspekten der Vita Brandlers wie der KPO-Entwicklung waren von ihm bereits im Laufe der letzten Jahre veröffentlicht worden. Diese Biografie behandelt zwar das ganze Leben. Den Schwerpunkt bilden - mit einem Drittel - die drei Jahre an der KPD-Führung, während die jeweiligen vier Jahrzehnte davor und danach jeweils ein weiteres Drittel ausmachen. Dabei beschränkt der Autor sich nicht nur auf die Darstellung von Brandlers Handeln. Ausführlich werden die jeweiligen politischen Maxime und die theoretischen Analysen diskutiert, wobei der Verfasser trotz erkennbarer Sympathien für den unbeugsamen Kämpfer nicht unkritisch verfährt. Im Mittelpunkt steht Brandlers Konzeption der Einheitsfront, die für diesen der Schlüssel zur Gewinnung des "Klassenbewusstseins" durch die breiten Massen darstellte. Becker zeigt dabei, wie sich Brandlers Vorstellungen nicht widerspruchsfrei, da abhängig von den politischen Kämpfen, entwickelten.

In seiner Lebensgeschichte brechen sich wie in einem Prisma die Höhepunkte wie die Tragödien der deutschen Arbeiterbewegung. Sie veranschaulicht die "Transformation des deutschen Kommunismus" von einer proletarische Emanzipation beanspruchenden radikalen Bewegung zu einem bürokratisch manipulierten Werkzeug in den Händen Stalins. Zum Verständnis von Strukturen und Politik tragen noch am meisten, wie Beckers Arbeit zeigt, die Biographien von Außenseitern jenseits etablierter Machtgefüge bei. Ein solcher war Brandler doch überwiegend. Zweifellos ist dem Autor ein wichtiger Beitrag zur Historiographie der deutschen Arbeiterbewegung und darüber hinaus zu ihrer Einbettung in die politische und soziale Geschichte des 20. Jahrhunderts gelungen.

Reiner Tosstorff, Frankfurt am Main





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