Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Theodor Bergmann, Mario Keßler (Hrsg.), Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays, VSA, Hamburg 2000, 464 S., kart., 49,80 DM.
Die zeitgenössischen "Sieger der Geschichte" verbindet mit ihren besiegten stalinistischen "Antagonisten" ein heute wie damals gängiges Dogma: Der Stalinismus sei die einzig mögliche Entwicklungslinie des Kommunismus. Apologeten der kapitalistischen Marktwirtschaft übernehmen damit das Paradigma der Stalinisten und Maoisten unseligen Angedenkens. Antikommunistische Eiferer und nominalsozialistische Dogmatiker treffen sich wie ehedem Kohl und Honecker einverständlich in der beschwörenden Formel des Letzteren, es gäbe keine Alternative jenseits der zwischen "real existierendem Sozialismus" und Kapitalismus. Der einzige Unterschied: So wie die einen damals diesem merkwürdigen "Sozialismus" deshalb alternativlose Weihe zuerkannten, verkünden die anderen heute nun das endgültige Ableben selbst des Denkens sozialistischer Alternativen zum real existierenden Kapitalismus.
Mario Keßler und Theodor Bergmann ließen es sich nicht nehmen, bereits 1993 diese aufschlussreiche Spiegelbildlichkeit in ihrem Vorwort zu einer bemerkenswerten Aufsatzsammlung über "Ketzer im Kommunismus" anklingen zu lassen. Denn diese Sammlung, so damals die Herausgeber, belege den Reichtum marxistischer Theoriebildung in den Schriften dieser "kommunistischen Ketzer" und die Integrität ihres politischen Handelns gerade in den Zeiten übelster Verfälschung, Vulgarisierung und Instrumentalisierung dieses Denkens im "ML" der Dogmatiker. Die schweren Wirkungen der "doppelten Verfolgung" jener Abweichler von dieser "reinen Lee/hre" des ML durch Antikommunisten stalinistischer oder faschistischer Provenienz veranlasste die Herausgeber damals jedoch auch zu der Frage, inwieweit das Scheitern der "Ketzer" außer auf ihre blutige Verfolgung auch auf die Schwäche ihrer Gegenentwürfe oder ihre Isolierung von den Massen zurückzuführen sei. Für die Beantwortung dieser schwierigen Frage bietet nun die im Jahr 2000 vorgelegte erweiterte Auflage reichlich Material, ohne allerdings dem Leser die Antwort damit bereits in den Mund zu legen. Keinen Zweifel lassen die Herausgeber jedoch an ihrer Absicht, in diesen Zeiten wachsender Ernüchterung über die "heile Welt" der Marktwirtschaft den wiederkehrenden und präventiv geförderten vulgären und verfälschenden Bildern von dem, was antikommunistische Ideologen für "Kommunismus" ausgeben, etwas entgegenzusetzen: Die zeitgenössischen Geschichtslügen, welche "Stalins Equipe und alle ihre Gegner" im gleichen Sarg beerdigt sehen wollen, stünden den Diffamierungen der verfemten antistalinistischen Linken durch ihre "realsozialistischen" Verfolger häufig in nichts nach. Beiläufig will diese Aufsatzsammlung aber auch "einen Beitrag zur Begriffsbestimmung des Stalinismus und zur Frage nach seinem Platz in der Geschichte des Sozialismus und Kommunismus [...] leisten" (S. 14).
Jack Jacobs hebt Rosa Luxemburgs antinationalistische Politik innerhalb der polnischen Sozialdemokratie gegenüber den nationalistischen Strömungen in der polnischen Sozialistischen Partei (PPS) hervor. Vor allem aber würdigt Jacobs die bekannte Kritik Rosa Luxemburgs an den ultrazentralistischen Elementen in Lenins Organisationskonzept, welche in ihrer berühmten Schrift "Zur russischen Revolution" von 1918 besonderen Ausdruck fand. Zu Recht bekräftigt Jacobs jedoch die gemeinsame Anti-Kriegs-Position Lenins und Luxemburgs nach 1914, von der aus Letztere namentlich die SPD und die deutsche Regierung, nicht aber in erster Linie die Bolschewiki attackierte. - Der Aufsatz von Stanislawa Nieuwazny belegt die Nähe der Auffassungen Maria Koszutskas zu denen Rosa Luxemburgs zum Verhältnis von polnischer nationaler Selbststständigkeit und revolutionärer internationalistischer Klassensolidarität. Diese bedeutende Funktionärin der PPS, ihres linken Flügels und schließlich der Kommunistischen Partei Polens wurde als Kritikerin Stalins 1929 endgültig zur "Opportunistin und Trotzkistin" gestempelt, im Moskauer Exil vollständig isoliert und 1937 verhaftet. Sie starb 1939 im Gefängnis und teilte so das Schicksal ihrer von Stalin liquidierten Partei.
Enzo Traverso beschreibt in seinem Aufsatz den Wandel Leo Trotzkis vom Kritiker der autoritären leninschen Parteikonzeption zum bolschewistischen Militärführer, der zum Aufbau der neuen Ordnung die verschiedensten Zwangsmittel rechtfertigte. Trotzkis dann beginnenden antibürokratischen Kampf gegen die wuchernden stalinistischen Strukturen auf einen Machtkampf zweier Bonapartes zu reduzieren, bezeichnet Traveso als "einen von bornierten und fantasielosen Politologen schlecht verdauten Machiavelli". Vor allem aber betont Traverso die Klarsicht, mit der Trotzki damals die Gebrechlichkeit des bürokratischen Regimes auf Grund der Fragilität seiner sozialen Grundlagen hervorhob, während die nachgeborenen westlichen Politologen die UdSSR stets als immobiles totalitäres Universum der Dauerhaftigkeit charakterisierten. Unter Hinweis auf den auch von Trotzki nicht begriffenen sozialen Rückschritt stalinistischer Durchherrschung dieser "Übergangsgesellschaft" fragt Traverso unter Berufung auf Brossat, ob es sich dabei nicht um eine "Variante radikal antihumanistischer Modernität" handelte. Und Traverso würdigt Trotzkis hellsichtige und brillante Charakterisierung des deutschen Faschismus sowie seine Kritik an der Passivität der Sozialdemokratie und dem Sektierertum der kommunistischen Partei. – Jens Becker verweist in seiner biografischen Skizze August Thalheimers auf die Nähe dessen exzellenter Faschismusanalyse zu der von Trotzki. Sowohl die trotzkistische, als auch die von Thalheimer vertretene Linie der KPD-Opposition waren klare Alternativen zum sektiererischen KPD-Kurs. Auch Gert Schäfer erinnert in seinem Aufsatz über Arthur Rosenberg an dessen Wandlung vom National-Konservativen zum USPDler, Ultralinken in der KPD bis hin zum entschiedenen Kritiker der "revolutionären Phrase". Seine Bedeutung als formationstheoretischer Analytiker des sowjetischen Systems und Historiker der Weimarer Republik wird von Schäfer auch unter Hinweis auf Rosenbergs Leistungen bei der Untersuchung des Zusammenhangs der deutschen mit der russischen Tragödie unterstrichen. -
Joachim Bischoff ermöglicht dem Leser seines biografischen Artikels über Antonio Gramsci einen aufschlussreichen Einblick in das Italien zwischen Fabrikrätebewegung und Faschismus.
Im Falle der Biografie Christian Rakowskis weist Thomas Zöller auf die noch beträchtliche Forschungslücke zum Werk dieses bulgarischen Internationalisten und Anhänger Trotzkis hin. Auch Bucharins Würdigung durch Wladislaw Hedeler kommt nicht ohne Hinweise auf die Forschungsdefizite bei der Erschließung insbesondere seines Früh- und Spätwerks aus. Weithin unbekannt ist auch, dass nicht Bucharin der Verfasser der "konterrevolutionären, umstürzlerische Ziele verfolgenden" Schrift "Stalin und die Krise der proletarischen Diktatur" war, wie dieser 1938 in dem gegen ihn geführten Schauprozess gestand, sondern Martemjan Nikititsch Rjutin, Berufsrevolutionär, Moskauer Parteifunktionär und nach Stalins Sieg dem oppositionellen "Bund der Marxisten-Leninisten" zuzurechnen. Seit 1932 im Gefängnis, wurde er im Januar 1937 als besonders gefährlicher Umstürzler nach geheimer Verhandlung ohne das Recht auf Verteidigung, ohne Recht auf Einspruch, mit sofortiger Vollstreckung des Urteils zur Höchststrafe verurteilt und erschossen. Wir erfahren dies in einem Beitrag von Annette Vogt über den verschwiegenen, zur Unperson abgestempelten bolschewistischen Parteiarbeiter.
Hans Piazza berichtet vom Übergang des früheren indischen Nationalisten Manabendrath Nath Roy zum Kommunismus im Jahre 1919. Geächtet von der Komintern und von den Briten in Indien verhaftet, arbeitete Roy nach seiner Freilassung nun in Nehrus Kongressbewegung mit und vertrat bis zu seinem Tod 1954 Ideen eines "Neuen Humanismus". - Rainer Tosdorff zeichnet die Lebenswege der revolutionären spanischen Syndikalisten Andreu Nin und Joaquin Maurin nach. Während Nin vom NKWD in Spanien als "Trotzkist" ermordet wurde, distanzierte sich Maurin nach seiner Entlassung aus franquistischer Haft im Exilland USA vom Kommunismus. Wie aus dem staatenlosen Anarchisten Victor Serge ein glühender Verteidiger der bolschewistischen Revolution und ebenso ein unbestechlicher Ankläger des stalinistischen Machtmissbrauchs in seiner zeitweiligen Wahlheimat Sowjetrussland wurde, beschreibt Jan Birchall.
Die Artikel von Avgust Lesnek über die KP Jugoslawiens und Zdenek Mlynars über die KP der Tschechoslowakei erinnern daran, dass es zu bestimmten Zeiten nicht einfach nur um einen Aufstand oder um die Ketzerei Einzelner ging, sondern um den Weg einer ganzen Partei, deren Politik das sowjetische Monopol auf Zwecksetzung und Mittelbeurteilung infrage stellte. Nikita Chrustschow, der 1955 die sowjetische Niederlage in Gestalt des Versuchs Stalins, die jugoslawischen Kommunisten zu unterwerfen, einzugestehen hatte, war andererseits 1956 ebenso der Totengräber ungarischer Selbstbestimmung, wie dies 1968 Breschnew im Falle der tschechoslowakischen Partei war. Chrustschows fragwürdige Einordnung in die Riege der "Ketzer" hatte Lothar Kölm zu besorgen, der allerdings Chrustschows Qualitäten als Inquisitor selbst zu beschreiben sich veranlasst sah; auch, als es um die Abrechnung mit dem Großinquisitor Stalin und zuvor seinem Sachwalter Berija ging. Dass die sowjetische Entstalinisierung die Beziehungen zur chinesischen Partei strapazierte, erlebte der "chinesische Chrustschow" Liu Shaoqi bei seiner Entmachtung zwischen 1964 und 1968, als er bei seinem Versuch, die katastrophalen Folgen des misslungenen maoistischen "Großen Sprungs" von 1958 zu regulieren, von dessen Fraktion mit der absurden Behauptung überzogen wurde, mit seinem realistischeren wirtschaftspolitischen Kurs den Kapitalismus wiederherstellen zu wollen. Er starb als Opfer von Maos "Kulturrevolution" ein Jahre nach seiner Verhaftung 1969 im Gefängnis. Theodor Bergmann gibt dem Leser in seinem Artikel einen komprimierten Einblick in die Beiträge Lius zur marxistischen Theorie. Den Stellenwert Sun Yefangs als chinesischem marxistischer Ökonom versucht Mao Tianqi im seinem Abriss der politischen Vita dieses als "Revisionist" 7 Jahre inhaftierten Wirtschaftsreformers anzudeuten.
William Hansen und Brigitte Schulz beteiligen sich mit einem beeindruckenden Portrait des antirassistischen Aktivisten Frantz Fanon. Seine Verachtung für die Halbherzigkeit und Unaufrichtigkeit der französischen Linken in der kolonialen Frage führte trotzdem nicht zum endgültigen Bruch mit diesen, jedoch verbot sich für ihn gleichermaßen jegliche Apologie des "real existierenden Sozialismus". - Nicht weniger eindringlich ist das Portrait Isaac Deutschers aus der Feder von Mike Jones und Alistair Mitchel. Schon 1932 als ein mit Trotzki sympatisierender Oppositioneller aus der polnischen KP ausgeschlossen, blieb ihm die ehrliche Feindschaft, welche er sich seitens der Repräsentanten kommunistischer Parteien, diverser trotzkistischer Gemeinden, CIA-finanzierter antikommunistischer Institutionen und orthodoxer Akademiker verdient hatte, über seinen Tod 1967 hinaus erhalten.
Die unmissverständliche Parteinahme des Schriftstellers Peter Weiss für den Sozialismus 1965 war für ihn seither ebenso eindeutig mit einer entschieden antistalinistischen Haltung und zuweilen auch mit deutlicher Kritik an den Zuständen in Ländern des "real existierenden Sozialismus" verbunden. Beat Mazenauer skizziert den Weg des mit der Literatur, dem Film und der Malerei experimentierenden Künstlers und seine Auseinandersetzung mit den Paradigmen der Revolution, der Verweigerung und des Protests. - Nicht fehlen durfte ein biografischer Artikel Dieter Hoffmanns und Hubert Laitkos über den nonkonformen Kommunisten Robert Havemann. Sein Antifaschismus und seine Selbstbefreiung vom stalinistischen Dogmatismus führten den prominenten Naturwissenschaftler bekanntlich in so deutliche Opposition zum politbürokratischen Regime in der DDR, dass er zum Vorbild vieler antistalinistischer Intellektueller des Landes wurde, welches freiwillig zu verlassen er niemals bereit war. - Einen "Helden der humanistischen Demontage" nennt Michael Brie seinen Artikel über Michael Gorbatschow. Gorbatschows Bedeutung und gleichzeitig Tragik könnte möglicherweise in der Größe seines verspäteten, nur "von oben" initiierten und so gescheiterten Versuchs liegen, eine Reform des Staatssozialismus mit der weltweiten Verbreitung eines "neuen Denkens" auch zur Lösung der globalen Lösung der Menschheit zu verbinden.
Der hier wieder vorgelegte Band mit nunmehr 23 Essays über "Ketzertum im Kommunismus" ist lesenswert. Einer der Herausgeber, Theodor Bergmann, selbst als "Ketzer" der KPO nach dem Krieg mit hohem Risiko in der SBZ auf der Suche nach überlebenden Genossen unterwegs, wusste ebenso wie der verstorbene Zdenek Mlynar, ein Aktivist des "Prager Frühlings", genau, wovon er redet. Die Leser werden infolge der bisher in Ost wie West wenig verbreiteten Neigung, das Leben solcher Persönlichkeiten bekannt zu machen, viel Neues und einiges bisher Unbekanntes finden.
Thomas Klein, Berlin