ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Nikolaus Katzer, Die weiße Bewegung in Russland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg (=Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Band 28), Böhlau Verlag, Köln-Wien 1999, 612 S., geb., 148 DM.

Ausgehend von den Erkenntnissen der bisherigen Bürgerkriegsforschung, dass der Bürgerkrieg in Russland an vielen Fronten ausgetragen wurde und mit der verkürzten Formel "Rot gegen Weiß" nicht zu fassen ist, liefert die Arbeit von Nikolaus Katzer eine solide Bestandsaufnahme der politischen Geschichte der weißen Bewegung vor dem "Hintergrund des gesamten Antibolschewismus". Katzer zeigt dabei, dass die "Weißen", worunter er im engeren Sinne die politischen Kräfte hinter den Militärdiktaturen des späten Bürgerkriegs versteht, keinesfalls rein restaurative Ziele verfolgten, sondern ebenso wie die sozialistischen Gegner der Bolschewiki zum Teil die Veränderungen des Jahres 1917 einbeziehende, reformatorische Konzepte entwickelten. In diesem Zusammenhang stellt die Arbeit auch immer wieder die Frage nach den politischen Alternativen im Bürgerkrieg als möglichen Varianten eines "anderen" Russlands.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile: Nach der Einleitung, die unter anderem die Verwendung des Begriffs "weiße Bewegung" problematisiert, wird im ersten Teil die Konstellation der politischen Kräfte des Jahres 1917 vor dem Hintergrund des Vorkriegsjahrzehnts nachgezeichnet. Im zweiten und umfangreichsten Kapitel werden die wichtigsten Herrschaftsbildungen und Gegenregierungen im Bürgerkrieg dargestellt. Dabei wird auf die (einzige) rein sozialistische Gegenregierung an der Wolga, die Koalitionskabinette in Nordrussland und im Ural sowie die Militärdiktaturen im Süden und in Sibirien eingegangen. Zudem wird in Unterkapiteln gesondert auf die Opposition im Untergrund Sowjetrusslands und auf die "kosakische Vendée" eingegangen. Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich regionenübergreifend mit den Mitteln und Methoden der Machtausübung. In vergleichender Perspektive werden Terror, Propaganda und diplomatische Außenwerbung der Weißen und der Sowjetregierung betrachtet. Dabei wird unter anderem mit der Auffassung gebrochen, der weiße Terror sei prinzipiell dem roten gleich oder habe diesen sogar erst erzeugt. Das vierte Kapitel ist der politischen Programmatik und Ideologie der antibolschewistischen Bewegung gewidmet. Darin geht es um alternative Staatsformen und Verfassungsentwürfe, Konzepte zur Gestaltung des Vielvölkerstaates, das Verhältnis von Kirche und Staat sowie um alternative Lösungsansätze für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Im fünften und letzten Teil mit dem Titel "das Russland jenseits der Grenzen" betrachtet Katzer die frühe Emigration, die erneut die Heterogenität der antibolschewistischen Bewegung verdeutlicht. Indem die "Zeitgenossen rückblickend dem noch unübersichtlichen Geschehen eine zielgerichtete Sinnhaftigkeit zu verleihen suchten", liegt dort die eigentliche "Geburtsstunde der weißen Bewegung".

Abschließend werden die zentralen Ergebnisse in sechs Punkten unter den Aspekten Verlauf, Programmatik, Herrschaftspraxis, Bürgerkriegsgesellschaft und politische Macht, Selbstbild der Weißen und Erbe des Bürgerkriegs zusammengefasst. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister und sechs Karten bilden den Anhang. Die Sozialgeschichte des Bürgerkriegs ist nicht Thema der Untersuchung und wird weitgehend ausgeklammert. Nicht nachvollziehbar erscheint, warum als einzige soziale Gruppe die Intelligencija, begründet mit der "herausragenden Rolle, die dieser Sonderschicht der russischen Gesellschaft beim Systemwechsel zufiel" in einem Unterkapitel besondere Erwähnung findet.

Tanja Penter, Bochum





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