Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Ilja Mieck/Pierrre Guillen (Hrsg.), Deutschland Frankreich Rußland. Begegnungen und Konfrontationen. La France et lAllemagne face à la Russie, R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 384 S., kart., 78 DM.
Frankreich Russland Deutschland das Thema umfasst viele Aspekte. Zunächst denkt man dabei an politische und Geistesgeschichte. Frankreich und Russland sind wichtige außenpolitische Faktoren für das in der Mitte zwischen diesen beiden Ländern gelegene Deutschland. Sie waren gerade auch wegen dieses deutschen Nachbarn füreinander wichtige politische Partner. Gleichzeitig stehen Frankreich und Russland für wichtige geistige Einflüsse, ja auch gesellschaftliche Modelle, die auf Deutschland einwirkten, zum Teil miteinander stritten, die anregend wirkten, auch missverstanden wurden. Frankreich und Russland sind aber auch füreinander wichtige Referenzen. Man denke nur an die "Westler" in Russland. Der vorliegende Band bietet Beiträge zur Untersuchung des skizzierten Spektrums. Die Texte gehen auf Vorträge zurück, die auf einem Kolloquium in Verdun im September 1998 gehalten wurden. Das Vorwort der Herausgeber gibt darüber und über den Veranstalter, das Deutsch-Französische Historikerkomitee Auskunft.
Der doppelte Titel "Face à la Russie" "Begegnung und Konfrontation" verweist auf die Schwierigkeiten der Übersetzung bei der Begegnung von Mitgliedern verschiedener Wissenschaftskulturen. Inhaltlich geht es in dem vorliegenden Band (ausgehend von diplomatiegeschichtlichen Fragestellungen) um ein Geflecht von Beziehungen, um politische Probleme und ihre geistigen Grundlagen. Dabei kann es offen bleiben, ob man dies als eine Renaissance der intellektuellen Geschichte bezeichnen möchte. Jedenfalls erkennt man in den Beiträgen eine Offenheit für gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven. Wirtschaftliche Fragestellungen kommen seltener in der Blick. Den Texten eignet eine gemeinsame Blickrichtung, sie weisen auch methodische Schwerpunkte auf. Es handelt sich also um allgemeinere Aufsätze und um Spezialstudien, kein Handbuch, keine Synthese, sondern um vielfältige Ansatzpunkte zu einem gemeinsamen Themenkreis. Gegenstände historischer Auseinandersetzungen werden im Licht neuer Akten neu diskutiert. Methodische Texte fehlen. Jenseits von Fragen des Vergleichs, des Transfers und nach den Grundlagen für eine europäische Geschichtsschreibung erweist sich, dass das schlichte gemeinsame Tun fruchtbar ist.
Die zwanzig Beiträge kommen etwa zu gleichen Teilen aus Deutschland und Frankreich. Der Zugang zu ihnen wird durch die Resümees in deutscher, französischer und englischer Sprache erleichtert. Die Texte sollen wegen ihrer heterogenen Thematik einzeln vorgestellt werden. Die Herausgeber haben die Beiträge vier Oberthemen zugeordnet. Das Erste nach einer Einführung zum gesamten Band von Stefan Fisch lautet "Politische Ausgangspunkte und kulturelle Prägungen". Zunächst zeigt Ilja Mieck durch eine genaue Analyse bekannter Quellen, dass die in der deutschen Historiographie oft behauptete Rettung Preußens bei den Verhandlungen in Tilsit 1807 nicht stattgefunden hat eine Behauptung, die in Frankreich unbekannt war und ist, und die durch die Quellen nicht gestützt wird. Sodann präsentiert Claus Scharf die unterschiedlichen Erinnerungen von Franzosen, Deutschen und Russen an die Besetzung Moskaus 1812. Seine Erkenntnisse entstanden bei der Vorbereitung der Edition einer Quelle, die interessanterweise klare nationale Stereotypen erhält, obwohl sie aus einer Zeit stammt, die nach landläufiger Ansicht erst zu deren Entstehung führte. Sein Beitrag plädiert für eine Erforschung der zahlreichen teilweise ungedruckten Memoiren und ermöglicht auch einen Zugang zur einschlägigen sowjetischen und russischen Historiographie. Reiner Marcowitz stellt seinem Beitrag zum Deutschen Bund zwischen Frankreich und Russland 1815-1830 einen umfangreichen Abschnitt zur Modernität von Diplomatiegeschichte voran, der durch seinen qualitätsvollen Überblick über seinen eigentlichen Gegenstand eher überflüssig erscheint. In ihrem Text zu Russophilie und Germanophobie in Frankreich und Russland 1878-1918 konstatiert Anne Hogenhuis-Seliverstorff ähnliche nationale Stereotypen in beiden Ländern. Der Berliner Kongress sei der Ausgangspunkt der deutschlandfeindlichen öffentlichen Meinung gewesen.
Diese Bedingungen beeinflussten den Problemkreis, der im folgenden Gliederungspunkt beschrieben wird: die französisch-russische Allianz gegen Deutschland. Jost Dülffer eröffnet ihn mit einem überblicksartigen Aufsatz zu den deutsch-russischen Beziehungen in den Jahren 1870-1914. Dann bietet Murielle Avice-Hanoun eine Exegese des französisch-russischen Militärabkommens 1892-1914 unter Einbeziehung der Entwicklung seines Textes. Demnach war der casus foederis Gegenstand ständiger Neuverhandlungen, die auf unterschiedliche Einschätzungen der Bedrohungslage reagieren mussten. Philippe Alexandre beschreibt differenziert die Haltung Friedrich Naumanns, seiner Zeitschrift "Die Hilfe" und ihrer Autoren zu Russland und den deutsch-französischen Beziehungen. Die in der "Hilfe" vertretene Philosophie des Lebenskampfes nahm England als Hauptkonkurrenten Deutschlands wahr. Man nahm gegen ein Zusammengehen mit Russland und für eine Zusammenarbeit mit der "Mittelmacht" Frankreich Stellung. Aber es gab auch Überlegungen zu einem andern Umgang mit Russland. Alexandre Réviakine legt dar, wie Frankreich und Russland während des Ersten Weltkriegs mit der Gefahr eines Separatfriedens des jeweils anderen Allianzpartners mit Deutschland umgingen, wobei man aus der Angst heraus beim Abschluss eines solchen Friedens jeweils schneller als der andere Partner zu sein hoffte. Am Thema "Deutschland, Frankreich und Russland in der deutschen Pressekarikatur 1848-1914" Ursula E. Koch erneut und methodisch abgesichert, dass die Karikatur ein effektives Medium der Stereotypenbildung war.
Der dritte Abschnitt des Sammelbandes wendet sich der ersten Nachkriegszeit zu. Guido Müller beschreibt die Rolle von (einflussreichen) Einzelpersönlichkeiten und Gruppen in der deutsch-französischen Annäherung 1922-1932 und gegenüber dem Faktor Sowjetrussland, geht dabei zunächst auf die Lage der drei Mächte nach dem Ersten Weltkrieg ein. Versuche einer Absprach der Locarno-Mächte bezüglich einer gemeinsamen Haltung zur UdSSR seien 1927 in Genf unternommen worden, nach deren Scheitern seien schließlich Versuche der privatwirtschaftlichen Zusammenarbeit unternommen worden. Ingesamt habe man jedoch in alten Denkmustern und Stereotypen gegenüber Sowjetrussland beharrt. Dann setzt sich Jacques Bariéty erneut mit der These von Wolfgang Ruge (1962) auseinander, dass Deutschland durch den Vertrag von Locarno in eine antisowjetische Allianz eingetreten sei. Durch die Nutzung von nun geöffneten Archiven ist es ihm möglich zu bekräftigen, dass es damals vielmehr zunächst um eine Stabilisierung der Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und Großbritannien gegangen sei. Die Beziehungen zwischen Reichswehr und Roter Armee beleuchtet Marcel Spivak aus der Sicht der französischen Militärattachés in Berlin. Eine Revision der frühen Forschungen ergab, dass Quellen der ersten Studien offenbar teilweise in der Zwischenzeit verloren gegangen sind. Es bleibt der Befund, dass die französischen Geheimdienste über die Anfänge der Zusammenarbeit der beiden Armeen und bis zum Ende der Zwanzigerjahre nur ungenau informiert waren, doch sind die politisch maßgebenden Personen im Grundsatz im Bilde gewesen. Dass die Annäherung der UdSSR an Frankreich und eine Entfremdung von Deutschland schon 1932 begann, zeigt Sylvain Schirmann anhand westlichen Quellen in seinem Aufsatz über die Stellung Deutschlands und Frankreichs zu einer Teilnahme der SU an der Wirtschafts- und Währungskonferenz von London 1933, auf der auch wirtschaftliche Aspekte in den sowjetischen Einflussgebieten thematisiert wurden. Demgegenüber wendet sich Sabine Dullin der Annäherung zwischen Frankreich und der Sowjetunion 1932-1935 und der Rolle Deutschlands aus der Sicht jetzt zugänglicher sowjetischer Quellen zu, auch sie betont wirtschaftliche Gründe für die Annäherung. Der Text von Elisabeth du Réau gibt anschließend einen Überblick über das Verhältnis zwischen den drei Mächten in den Jahren 1936-1939 und spannt so den Bogen vom sowjetisch-französischen Beistandspakt bis zum Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die Evolution dieses Verhältnisses wurde maßgeblich von der inneren Entwicklung in Deutschland beeinflusst.
Der abschließende Abschnitt schließlich wendet sich schwerpunktmäßig den Themen Kommunismus und Sowjetunion zu. In einer vergleichenden Untersuchung bearbeitet Andreas Wirsching die Bolschewisierung und Stalinisierung der KPD und der PCF. Im Ergebnis konstatiert er eine frühe Bolschewisierung beider Parteien in unterschiedlicher Tiefe, woraus eine unterschiedlich starke Stalinisierung folgte, die die PCF bis zum Beginn der Volksfrontpolitik schwächte. Die Beziehungen zwischen Vichy-Frankreich, der UdSSR und Deutschland 1940-1941 sind bisher kaum erforscht. Georges-Henri Soutou wertete für seine diesbezügliche Studie die Archive des französischen Außenministeriums aus. Demnach kam dem Antikommunismus ein besonderes Gewicht als Katalysator für die Evolution der Kollaboration zu. Als Konsequenz des verlorenen Krieges und der Kollaboration kamen zahlreiche französische Kriegsgefangene, Zivil- und Zwangsarbeiter nach Deutschland. Helga Bories-Sawala thematisiert deren Sicht auf die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter und stellt dabei Ergebnisse ihrer Dissertation vor. Das alltägliches Verhältnis zwischen den von den Nationalsozialisten definierten verschiedenen Kategorien von ausländischen Arbeitskräften sei komplex und durchaus auch von Hierarchien geprägt gewesen. Der zweite vergleichende Beitrag des vorliegenden Bandes untersucht die Reaktionen bundesdeutscher und französischer Intellektueller auf den Fall Solschenizyn: Friedhelm Boll und Stéphane Sirot zeigen in ihrem (zweisprachigen) Text, wie das gleiche Ereignis intellektuell unterschiedlich wahrgenommen wurde. In Frankreich bewirkte die Debatte einen Wandel von der Kritik an der UdSSR zur Kritik am Marxismus-Leninismus selbst. Ein Problem des Beitrags besteht allerdings darin, dass für beide Länder asymmetrische Quellen herangezogen wurden. Der Leser wird durch Gottfried Niedhart zurück auf das Gebiet der Außenpolitik geführt. Er legt dar, dass die Weltpolitik in der Ära Brandt und Pompidou in Bewegung gekommen sei. Gleichzeitig zu dem mit "1968" benannten inneren Wandel habe es einen außenpolitischen Trend zur Multipolarität gegeben. Die neue Ostpolitik als Voraussetzung zur Lösung der deutschen Frage habe der Bundesrepublik Handlungsspielraum verschafft und trotz grundsätzlich gleichlaufender Interessen die Kritik Frankreichs hervorgerufen, das seine Führungsrolle in Europa und seine Stellung als bevorzugter Ansprechpartner der SU gefährdet sah. Seine Ausführungen stützt der Autor durch jetzt zugänglich gewordenes Archivgut aus staatlichen Archiven und dem Privatarchiv Helmut Schmidts.
Die Ergebnisse des durch ein Personenregister erschlossenen Bandes werden durch eine Konklusion von François Roth zusammengefasst, die gleichzeitig Aufgaben für künftige Forschungsarbeiten formuliert.
Hans-Martin Moderow, Leipzig