ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Axel Grießmer, Massenverbände und Massenparteien im wilhelminischen Reich. Zum Wandel der Wahlkultur 1903-1912 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 124), Droste Verlag, Düsseldorf 2000, 338 S., geb., 78 DM.

Die Geschichte des Parlamentarismus im Kaiserreich im weitesten Sinne ist immer noch ein außerordentlich interessantes Feld – so sehr die Frage eines "deutschen Sonderweges" inzwischen auch "erledigt" zu sein scheint. Nachdem in den vergangenen Jahren mehrere moderne Studien zur Parteiengeschichte vorgelegt worden sind, hat der Verfasser in seiner Saarbrücker Dissertation nunmehr ausführlich die nationalen Agitationsverbände in den Blick genommen. Diese – allen voran der Alldeutsche Verband, der Flottenverein und der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie – haben das öffentliche Leben vor 1914 stark geprägt. Sie waren es, die der imperialen "Weltpolitik" lautstark das Wort redeten und politische Entscheidungsprozesse überparteilich an "nationalen" Aufgaben wie Flottenbau oder Kolonialerwerb ausgerichtet wissen wollten. Daher galten sie bisher als mitverantwortlich für die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und die Zerklüftung der innenpolitischen Landschaft.

In dieser Studie geht es nicht primär um die Agitation der nationalen Verbände als solche, ihre innere Struktur oder Programmatik, sondern vielmehr um ein bisher allenfalls am Rande behandeltes, dennoch zweifellos wichtiges Problem: ihre Schlüsselrolle auf dem politischen Massenmarkt, die sich insbesondere auf die Beeinflussung der Wahlkämpfe und der Wahlkampfkultur erstreckte.

Auf der Grundlage einer zusammenfassenden Analyse ihrer Entwicklung behandelt der Verfasser am Beispiel des Verhaltens der großen nationalen Verbände während der Wahlen von 1903 und 1907 detailliert deren Wandel vom Lobbyisten zum Wahlkämpfer. Ihre Modernität in der Anwendung neuer Formen der "Zielgruppenansprache" war dabei eine wesentliche Voraussetzung ihrer Wirksamkeit. Vor allem der Flottenverein, der diesbezüglich auf reichliche Erfahrungen zurückgreifen konnte, entfaltete unter Führung des äußerst agilen Generals Keim eine große Aktivität. Sehr zum Ärger eines Teils seiner Mitglieder, vor allem des bayerischen Landesverbands wie auch des Reichsmarineamts beteiligte er sich intensiv am Wahlkampf und mobilisierte seine "nationalen" Anhänger gegen Sozialdemokratie und Zentrum und für das bürgerlich-nationale Lager. Obwohl das Ergebnis der Agitation nicht überbewertet werden sollte, hatte diese nach Meinung des Grießmers durchaus einen nicht unerheblichen Anteil an der angestrebten "Eindämmung" der SPD. Indem sich die "nationalen" Verbände selbst auf Grund ihrer großen Mitgliedschaft – allein der Flottenverein zählte bald eine Million Mitglieder – als Wahlhilfstruppen des jeweiligen Milieus verstanden, hatten sie es verstanden, in großem Stil Wähler zu mobilisieren und damit die Parteienkonkurrenz erst zu einem "Aufgebot der Massen" zu machen. Hinter diesem Engagement verbarg sich das übergreifende Ziel, "die Zusammensetzung des Reichstags zu Gunsten der bürgerlichen Ordnungsparteien aktiv zu beeinflussen" (S. 303) und zugleich eigene Vertreter als Abgeordnete in den Reichstag zu entsenden. Damit wollten sie sicherstellen, dass dieser in Zukunft nur nach "’nationalen’ Bedürfnissen und Optionen" (S. 303) entscheiden würde.

Diese Politik der Verbände ist zunächst ein weiterer Beleg für die auch durch andere Untersuchungen herausgearbeitete erstaunliche "Fundamentalpolitisierung", die in der wilhelminischen Ära zu verzeichnen ist und die die weithin vertretene These von einer gezielten Manipulation von oben gänzlich oder zumindest in Teilen in Frage stellt. Zugleich zeigt sie, dass auch die "nationalen" Verbände, trotz aller reichstagsfeindlichen Rhetorik, das Parlament als zentrales Entscheidungsorgan anerkannten.

Umso erstaunlicher ist es daher festzustellen, dass die Wahlen 1907 Höhe- und Endpunkt des Wirkens der "nationalen" Verbände zugleich waren. Der Flottenverein wurde vom Reichsmarineamt wieder "an die Leine" genommen, der vergleichsweise wenig erfolgreiche Alldeutsche Verband zog sich in den Schmollwinkel einer relativ inhaltslosen Trotzhaltung zurück und der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie verlor nach dem großen Wahlerfolg der SPD 1912 und dem ungeschickten Verhalten seines Vorsitzenden, General v. Liebert, massenhaft Anhänger. Hinzu kamen geradezu kleinliche und lächerliche Reaktionen führender Protagonisten wie General Keim oder Heinrich Claß. Diese stellten, so hat man gelegentlich den Eindruck, ihr persönliches Schicksal dann doch über die "Sache". Der Versuch, durch die Schaffung eines "Kartells der schaffenden Hände" 1913 neue Stoßkraft zu entwickeln, war daher von vornherein zum Scheitern verurteilt, 1914 befanden sie sich in einer "latenten Krise" und drängten nicht zuletzt deswegen auf eine Flucht nach vorn in den großen Krieg.

Dieses Scheitern ist jedoch – so Grießmer – ein Zeichen für die zunehmende Bedeutung des Parteienstaats im Kaiserreich. Darüber hinaus zeigt diese Entwicklung, dass eine Sammlungspolitik weder auf manipulativem Wege von oben möglich war noch dass es vor dem Krieg sammlungsgeneigte Organisationen gab, "die auf Anregung ‚von innen’ dazu bereit gewesen wären, selbst dauerhaft in einer auf fester organisatorischer Basis beruhenden Verbands- bzw. Parteienkoalitionen [...] zusammenzuarbeiten. (S. 307)". Dies ist ein wichtiges Ergebnis und umso mehr sollten daher die Verbände insgesamt in der Form detaillierter Einzelstudien in den Blick genommen werden. Die vorliegende Arbeit. liefert dazu ausreichend Material, auch wenn sie sich zeitlich – leider - auf eine kurze Phase ihrer Tätigkeit beschränkt und die Frage der fatalen Kontinuität des "Nationalen" über 1914/18 hinaus nur am Rande thematisiert.

Michael Epkenhans, Bardowick





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