Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Gesine Krüger, Kriegsbewältigung und Geschichtsbewusstsein. Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, 344 S., kart., 69 DM.
Die deutschen Kolonien rücken in den letzten Jahren wieder in das Blickfeld von Historikerinnen und Historikern. Mehrere Studien beschäftigen sich mit der deutschen Kolonialzeit zwischen 1894 und 1915 oder diskutieren die Auswirkungen dieser verhältnismäßig kurzen Phase auf die deutsche Politik in den nachfolgenden Jahrzehnten. Dabei steht "Deutsch-Südwest" als diejenige Kolonie, die nicht nur den Handelsinteressen dienlich sein sollte, sondern auch gezielt besiedelt wurde (1903 lebten allerdings "nur" 4.682 "Weiße" in Südwest), immer noch im Mittelpunkt des Interesses. Einige bereits vorliegende Studien befassen sich speziell mit dem deutschen Kolonialkrieg gegen die Herero zwischen 1904 und 1907, allerdings nahezu ausschließlich aus deutscher Sicht. Die Dissertation von Gesine Krüger versucht die in der Forschung bisher unterrepräsentierte Perspektive der Herero zu thematisieren, indem sie nach "Bildern, Mythen und Geschichtsgeschichten über den Krieg und die Geschichte der Herero, nach sozialen, ökonomischen und kulturellen Formen der Kriegsbewältigung der Nachkriegszeit innerhalb der Herero-Gesellschaft" fragt (S. 15). Krüger verfolgt im Kern die These, dass die Herero-Gesellschaft nach 1907 insgesamt drei Phasen der Kriegsbewältigung durchlaufen habe, die nicht nur die "Rekonstruktion" gesellschaftlicher Strukturen umfassten, sondern auch einen Prozess der "Konstruktion" oder der "Erfindung" einer Herero-Identität beinhalteten. Die Autorin hebt sich mit dieser These von anderen Forschungsmeinungen ab, die stärker die desintegrierende Wirkung des Kolonialkrieges betonen.
Krügers Arbeit ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Teil gibt einen umfassenden Überblick über die bestehende Forschungsliteratur zum deutschen Kolonialkrieg in "Südwest" und arbeitet die verschiedenen Kontroversen, beispielsweise die so genannte "Genozid-Debatte", überzeugend heraus. Krüger gelingt es dadurch, dem Leser auf knapp vierzig Seiten die notwendigen Kenntnisse über die deutsche Kolonialpolitik im späteren Namibia sowie über den "Charakter des Krieges" zwischen 1904 und 1907 zu vermitteln, ohne die ihre späteren Detailstudien nicht nachvollziehbar wären.
Wer allerdings erwartet, nach diesem Einleitungskapitel nun etwas über das eigentliche Thema der Arbeit zu erfahren, wird enttäuscht. Der zweite Teil der Studie befasst sich nicht mit Kriegserleben und Verarbeitung der Hereros, sondern mit denen der deutschen Soldaten. Anhand von Soldatentagebüchern verdeutlicht Krüger deren Wahrnehmung des Krieges und vor allem des Gegners. Dass eine Interpretation solcher biografischen Zeugnisse überaus lohnenswert ist, steht außer Frage, allerdings ist es nicht nachvollziehbar, warum Krüger der deutschen Perspektive auf das Kriegsgeschehen mehr als einhundert Seiten ihres Buches widmet. Hier greift ein massives Quellenproblem, das die Autorin zwar benennt, indem sie von den überwiegend "mündlichen Überlieferungen der afrikanischen Geschichte" (S. 73) spricht, allerdings weiß sie damit methodisch kaum umzugehen. Das Buch gerät dadurch in eine Schieflage, denn die Darstellungen der Hereros in den Soldatentagebüchern sagen mehr über ihre deutschen Verfasser als über die Hereros aus.
Somit beschäftigt sich allein der dritte Teil des Buches mit dem eigentlichen Thema der Untersuchung. Krüger entwirft unter dem Titel "Der Rekonstruktionsprozess innerhalb der Herero-Gesellschaft" ein Phasenmodell der kollektiven Kriegsbewältigung. Bereits während der deutschen Kolonialzeit begann demnach "ein Rekonstruktionsprozess, der in ökonomischer Hinsicht auf den Wiederaufbau der Viehherden zielte, in spiritueller und politischer Hinsicht auf die Schaffung einer allgemeinen, "nationalen" Herero-Identität" (S. 183). Dieser Prozess beschleunigte sich nach Krüger unter südafrikanischer Verwaltung und während der Zwischenkriegszeit.
Im diesem letzten Abschnitt des Buches kann die Autorin bemerkenswerte Formen der kollektiven Kriegsbearbeitung aufzeigen, die ihre These unterstützen. Allerdings setzen sich auch hier methodische und theoretische Ungenauigkeiten weiter fort. Krüger unterscheidet zwischen "Rekonstruktion" und "Konstruktion", allerdings wird die Verwendung dieser Begriffe nicht erläutert. Man muss daher gegen den Eindruck anlesen, der gesellschaftliche Aufbau nach 1907 gleiche einem Wiederherstellungsprozess, hingegen handele es sich bei der "Erfindung" der nationalen "Herero-Identität" um einen kreativen Akt, der etwas gänzlich Neues hervorbringe. Nicht nur begrifflich trifft Krüger damit eine Unterscheidung, die problematisch ist. Zudem bleibt es fraglich, ob und wenn ja, inwiefern die Vergemeinschaftung unter den Herero als nationaler Prozess zutreffend beschrieben ist, zumal es sich bei den Herero nicht um die einzige Bevölkerungsgruppe im späteren Namibia handelt. Eine Auseinandersetzung mit der inzwischen umfangreichen Forschungsliteratur zu "Nation", "Volk" und "Ethnie" hätte der Studie fruchtbare Impulse geben können.
Ulrike Jureit