Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Alfons Labisch, Reinhard Spree (Hrsg.), Krankenhaus-Report 19. Jahrhundert. Krankenhausträger, Krankenhausfinanzierung, Krankenhauspatienten. Campus-Verlag, Frankfurt a. M. 2001, 470 S., kart., 45 EUR.
"Krankenhaus-Report 19. Jahrhundert" , das ist ein geschickt gewählter Titel für ein Buch, das eines der brennendsten und hartnäckigsten gesundheitspolitischen Gegenwartsprobleme mit dem Werkzeug des Historikers für das 19. Jahrhundert analysiert. Der widersprüchliche Titel des Sammelbandes soll, so die Herausgeber, nicht zuletzt die Neugier derjenigen wecken, die maßgeblich an aktuellen gesundheitspolitischen Entscheidungen zur Krankenhausfinanzierung Stichwort Einführung des Fallpauschalensystems in 2003 - beteiligt sind.
Die Herausgeber haben als Veteranen der sozial- und medizinhistorischen Erforschung des deutschen Gesundheitswesens im 19. und 20. Jahrhundert in den letzten zwei Jahrzehnten viele Themen von tagespolitischer Brisanz in eigenen historischen Publikationen vorgestellt, aber auch an ihren Lehrstühlen in Düsseldorf und München immer wieder Nachwuchswissenschaftler gefördert, auf Tagungen zusammengeführt und die Resultate in Sammelbänden präsentiert. Auch die Beiträge dieses Bandes stammen mehrheitlich von jungen Historikern am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und am Fachbereich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Ausgangspunkt dieses Sammelbandes ist die mittlerweile so unendliche wie erfolglose Geschichte der Krankenhausfinanzierung in Deutschland im letzten Vierteljahrhundert. Wohl nur wenige Experten überblicken noch die rasche Abfolge von Gesetzen und Verordnungen, mit denen die Politik bisher ohne durchschlagenden Erfolg versucht hat, den kostenintensivsten Sektor des Gesundheitswesens, das Krankenhaus, finanzpolitisch in den Griff zu bekommen. Die beiden Herausgeber geben in ihrer Einführung einen konzisen Überblick über die Abfolge der bundesdeutschen Krankenhausfinanzierungssysteme seit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz von 1972 bis zur Einführung der Fallpauschalen zum 1. Januar 2003.
Ausgangsthese des vorliegenden Bandes ist, dass das Finanzierungssystem den Krankenhausbetrieb und damit auch die Lebenswelt der Patienten gestaltet. Die Autoren des Bandes wählen dementsprechend einen finanzwirtschaftlichen Zugang zu ihrem Thema. Bis auf den überblicksartigen Einführungsbeitrag der beiden Herausgeber und einen Beitrag über die Finanzierung der Krankenhauspflege in Preußen vor 1883, dem In-Kraft-Treten der Gesetzlichen Krankenversicherung, handelt es sich bei sämtlichen Beiträgen um Einzelfallstudien von Krankenhäusern bzw. Heilanstalten im Zeitraum vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Indem die Autoren dieses Sammelbandes sich nicht auf normative Quellen stützen, sondern in aufwändigen Einzelfallanalysen oder vergleichenden Studien statistische Quellen wie Aufnahme- und Rechnungsbücher von Krankenanstalten auswerten, finden sie heraus, welche Patienten tatsächlich die frühen Krankenhäuser belegten. Die Autoren können darüber hinaus zeigen, das die Patientenstruktur eines Krankenhauses maßgeblich davon abhing, wer jeweils für die Kosten des Krankenhausaufenthalts aufkam.
Die Beiträge des ersten Hauptteils kreisen um die Frage der Finanzierung des Krankenhausbetriebes. Die Frage der Kostendeckung des Krankenhausbetriebes ist so alt wie die ersten Krankenhäuser in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wenig bekannt ist bislang, dass es vor Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung für Arbeitnehmer im Jahre 1883 bereits Krankenhausversicherungen in Deutschland gab. Sie waren vor allem im süddeutschen Raum verbreitet und entstanden zu einem Zeitpunkt, als das Krankenhaus noch überwiegend der medizinischen Versorgung der arbeitenden Unterschichten diente, also als armenfürsorgerische Einrichtung fungierte. Die Patienten sollten durch den Krankenhausaufenthalt so schnell wie möglich wieder erwerbsfähig gemacht werden, um nicht der städtischen Armenfürsorge zur Last zu fallen. Eines der gängigsten Finanzierungsmodelle waren die Abonnementverträge, die die Krankenhäuser mit Dienstherrschaften, Zünften oder Handwerksmeistern für das Gesinde (Gesellen und Lehrlinge) abschlossen. Dieses Abonnementsystem war teils verpflichtend, teils freiwillig. Welche Auswirkungen diese Finanzierung der Krankenhauspflege für den betroffenen Patienten im Einzelfall haben konnte, z.B. wenn er innerhalb der im Abonnementvertrag vorgesehen Höchstverweildauer im Krankenhaus nicht gesund wurde, dies kommt in den Beiträgen zumeist nicht vor. Lediglich Barbara Leidinger bringt einige Beispiele für individuelle Konsequenzen in ihrem Beitrag über die Allgemeine Krankenkasse des Bremer Krankenhauses.
Im zweiten Hauptteil des Bandes geht es um die Patienten, nicht um den Einzelnen, sondern um die soziale Gruppe. Fallstudien zeigen den Zusammenhang zwischen Kostenträgerschaft und der sozialen und altersspezifischen Zusammensetzung der Patienten. Verschiedene Befunde aus dem süddeutschen Raum deuten darauf hin, dass das In-Kraft-Treten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahre 1883 die Funktion der Krankenanstalten als Auffangbecken für soziale Unterschichten kaum veränderte. Die GKV war auf verheiratete Arbeitnehmer, nicht auf weibliche Dienstboten und Gesinde zugeschnitten. Zudem unterschied sie sich in der Zielrichtung von den Krankenhausversicherungen. Sie diente vor allem dazu, Krankengeld für maximal 13 Wochen Arbeitsunfähigkeit sicher zu stellen. Die Krankenhäuser nahmen auch weiterhin in erster Linie die "labouring poor" auf. Forschungen zur Effizienz der Krankenhausbehandlung liegen noch kaum vor. Jörg Vögele, Wolfgang Woelk und Bärbel Schürmann (Düsseldorf) beschreiten Neuland, indem sie das Krankheitsspektrum der Krankenhauspopulation in Beziehung setzen zum Todesursachen-Spektrum der Stadt Düsseldorf Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Methodisch besteht das Problem darin, dass bei den verstorbenen Patienten nicht gesagt werden kann, ob sie nicht auch ohne Krankenhausbehandlung gestorben wären. Im Ergebnis zeigt die Erhebung, dass die Düsseldorfer Krankenhäuser keine "Pforten zum Tod" waren, wie die Verfasser es nennen.
Das Niveau der Beiträge ist gleichmäßig hoch, weil die Verfasser durchgängig keine normative Geschichtsschreibung betreiben. Die regionale Konzentration auf München und Düsseldorf lässt sich mit dem Standort der Herausgeber erklären und mit dem historischen Befund, dass die frühen Krankenhausversicherungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine süddeutsche Besonderheit waren. Die überzeugenden Ergebnisse mögen weitere profunde Untersuchungen norddeutscher Krankenhäuser nach sich ziehen; denn erst der historische Vergleich fördert große Entwicklungslinien und regionale Besonderheiten gleichermaßen zu Tage. - Ein Verzeichnis der Tabellen, geordnet nach den einzelnen Beiträgen, rundet den sorgfältig gestalteten Band ebenso ab wie ein Orts-, Sach- und Personenregister, das auf Schlagworten basiert.
Elke Hauschildt, Koblenz