ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Franziska Raynaud, Savoyische Einwanderungen in Deutschland (15. bis 19. Jahrhundert), Verlag Degener & Co, Neustadt an der Aisch 2001, 279 S., geb., 68 DM.

Sie kamen aus den Tälern südlich des Genfer Sees, aus Dörfern und kleinen Städten in einem Dreieck zwischen Evian, Chambéry und Aoste (it.: Aosta). Urkunden aus der Frühen Neuzeit geben ihre Herkunft mit Sabaudus, Saphoy, Savoy oder Italus wieder. Ihre Landesherren waren die Herzöge von Savoyen und Piemont, die späteren Könige von Sardinien, also Angehörige jener Dynastie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die territoriale Einigung der Apenninenhalbinsel vollendete und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die gekrönten Häupter Italiens stellte. Unter den Einwanderergruppen, die seit dem 15. Jahrhundert in den deutschsprachigen Raum gelangten, zählen die Savoyer zu den kleineren und weniger bekannten. Sie wurden eher als Italiener denn als Franzosen angesehen, obwohl ihre Sprache dem Hochfranzösischen näher stand als dem toskanischen Idiom Dante Alighieris. Als "Immigranten" mussten sie mehr im kulturellen als im staatsrechtlichen Sinne gelten, denn Savoyen gehörte bis zur Französischen Revolution zu Reichsitalien, war also ein Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.

Die Geschichte des Letzteren kennt vor allem zwei aus dem Westalpenraum stammende prominente Persönlichkeiten: Prinz Eugen von Savoyen, der als Heerführer dem Osmanischen Reich manche bittere Niederlage bereitete und Graf Montgelas, der langjährige bayerische Staatsminister. Dass savoyische Adlige als Offiziere in die Heere deutscher Landesherren eintraten, war nicht ungewöhnlich. Auch zwischen den Dynastien bestanden enge Bande; im Laufe der Jahrhunderte heirateten 14 Savoyer Prinzessinnen in deutsche Fürstenfamilien ein.

Am kaiserlichen und am badischen Hof waren Fachleute aus den Westalpen als Verwaltungsbeamte tätig; andere zählten zu den Hoflieferanten. Immerhin waren allein in der Stadt Wien zu Lebzeiten des Prinzen Eugen 30 Savoyer Handelsherren ansässig. Wer es als Savoyer in Deutschland zu etwas brachte, darunter Geheimräte, Großkaufleute und Unternehmer, der hatte gute Chancen, in den Adelsstand erhoben zu werden. Manche Migranten ließen sich bald nach dem Erwerb der Bürgerrechte zu Ratsherren, Bürgermeistern oder Landtagsabgeordneten wählen.

Die beruflich weniger erfolgreichen und sozial niedriger gestellten Auswanderer gaben im deutschsprachigen Raum die Grundlage für das Stereotyp des Savoyers: "Krätzenmänner", also hausierende Kessler oder Krämer und ärmlich gekleidete Savoyerknaben, die auf den Jahrmärkten ihre Murmeltiere und Tanzbären vorführten oder die Drehorgel spielten. Ihre Spuren finden sich in Briefwechseln, Liedern und Gedichten. Sie folgten alten Handelsstraßen durch die Eidgenossenschaft und traten vor allem am Oberrhein massiv in Erscheinung. Eine Reihe kleinerer südwestdeutscher Städte traf schon 1567 eine Übereinkunft gegen die hausierenden Savoyer, der Schwäbische Bund klagte 1582 gegen sie beim Reichstag.

War gerade der Anteil der Händler unter den eingewanderten Savoyern sehr groß, so wählten im 15.-17. Jahrhundert auch Maurer, Steinhauer, Kesselschmiede, Zinngießer den Weg in den Norden. Oft verbreiteten sie die handwerklichen Traditionen ihrer Herkunftsorte: Kesselschmiede aus Magland und St. Roch, Nagel- und Sensenhersteller aus Taninges, Maurer aus Samoëns. Während viele Savoyer als fahrendes Volk am Rand der Gesellschaft blieben, traten andere in die Zünfte ein und erwarben die Bürgerrechte. Die meisten savoyischen Migranten waren und blieben katholisch; vielfach wurde ihre Bedeutung für die katholischen Länder und Reichsstädte am Oberrhein mit derjenigen der Hugenotten in den protestantischen Territorien des Alten Reichs verglichen. Schwer nachweisen lässt sich, dass sie wie die Kalvinisten im Gefolge einer bewussten fürstlichen Peuplierungspolitik angesiedelt wurden. Aber ebenso wie jene füllten sie Bevölkerungslücken auf, die durch den Dreißigjährigen Krieg und die Feldzüge Ludwigs XIV. gerissen worden waren. Erst die Französische Revolution und später dann die Entstehung einer Kleinindustrie in den Savoyer Tälern verringerten den Migrationsfluss, der am Ende des 19. Jahrhunderts endgültig versiegte.

Rekrutierungslisten aus Savoyen lässt sich entnehmen, dass die erwachsenen Männer etwa neun Monate im Jahr als Händler in fremde Länder reisten. Manche von ihnen besaßen einen Laden in ihrem Herkunftsdorf, um den sich zurückgebliebene Familienmitglieder kümmerten. Ehefrau und Kinder bestellten mithilfe von Verwandten oder Gesinde die Felder und versorgten das Vieh. Die Migranten brachen in der Regel in größeren Gruppen auf und blieben so lange wie möglich beisammen. Sie führten die Ware auf Fuhrwerken mit oder ließen sie von Lehrlingen und Gehilfen tragen. In einigen Orten unterhielten die Handelsunternehmen Wagenlager, von wo aus sich einzelne Händler oder Hausierer auf den Weg in die nähere Umgebung machten.

Durch die Schweiz folgten die Savoyer dem Kalender der Messen und Jahrmärkte. Das Eingangstor zum oberdeutschen Raum war für die Savoyer die seit 1548 habsburgische Stadt Konstanz, wo zwischen 1586 und 1817 immerhin 36 Savoyer als Bürger aufgenommen wurden. Die meisten auf Dauer in Südwestdeutschland angesiedelten Savoyer lebten im vorderösterreichischen Freiburg, wo zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert 48 Bürger "und mindestens zwei Hintersassen" Aufnahme fanden. Schließlich war Freiburg ein begehrtes Ziel für Studenten aus Savoyen; zwischen 1493 und 1600 studierten dort 60 von ihnen. Eine relativ hohe Anzahl von Savoyern lebte zumindest im 17. Jahrhundert noch in Mainz; dort erwarben zwischen 1650 und 1695 28 Savoyer das Bürgerrecht, fünf weitere im Jahr 1721.

Die Verfasserin der hier angezeigten, in einem auf familiengeschichtliche und genealogische Themen spezialisierten Verlag erschienenen Arbeit ist keine Fachhistorikerin, sondern eine mit viel Engagement und Liebe zum Detail arbeitende Laiin. Sie hat vor allem die französischsprachige Literatur und einige ältere deutsche Studien aufgearbeitet, darüber hinaus aber den Weg in die Archive nicht gescheut, um möglichst allen savoyischen Einwanderern auf die Spur zu kommen. Franziska Raynauds Arbeit erweitert unsere Kenntnisse über eine kleinere, in Südwestdeutschland keineswegs unbedeutende Immigrantengruppe. Leider bedient sich die Autorin manchmal obsoleter oder ganz abwegiger Interpretationsschemata, so etwa, wenn sie mehrfach von "frischem Blut" spricht, dass die Savoyer nach Deutschland brachten. Unangenehm fällt auf, dass sie gleich dreimal anführt, der "Reichsführer SS" Heinrich Himmler sei savoyischer Abstammung gewesen.

Insgesamt macht die Arbeit aber einen solide recherchierten Eindruck. Die Lektüre ist über weite Strecken spannend, auch wenn nur wirkliche Experten oder Liebhaber den analytischen Teil lesen werden, der sich mit den einzelnen Savoyer Familien, ihren Herkunfts- und Niederlassungsorten, ihren Familienbanden u.a. beschäftigt.

Rolf Wörsdörfer, Frankfurt am Main





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