ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernd Braun, Hermann Molkenbuhr 1851-1927. Eine politische Biographie, Droste Verlag, Düsseldorf 1999, 418 S., geb., 98 DM.

Arbeiterführer, Parlamentarier, Parteiveteran. Die Tagebücher des Sozialdemokraten Hermann Molkenbuhr 1905 bis 1927 (=Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Band 8), hrsg. von Bernd Braun und Joachim Eichler, R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 405 S., geb., 68 DM.


"Hermann Molkenbuhr: eine entbehrungsreiche Kindheit als Sohn eines Proletariers, ein bildungshungriger Zigarrenarbeiter, ein Freund der schönen Künste, ein Jünger Ferdinand Lassalles, ein einsatzwilliger Agitator, ein gesinnungstreuer Funktionär der Hamburger Arbeiterbewegung, ein Mitbegründer der einigen Sozialdemokratie, ein Opfer der Bismarckschen Sozialistenverfolgung, ein engagierter Parlamentarier, ein Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, ein sozialpolitischer Vordenker, ein Anwalt des entrechteten Arbeiterstandes, als Parteiführer ein Vermittler zwischen den Extremen, ein Pragmatiker mit dem Sinn für das Machbare, ein Idealist ohne persönlichen Machtwillen, ein Verteidiger der Einheit der Partei, ein überzeugter Demokrat und Republikaner, ein Mann mit hohem Verantwortungsbewusstsein für seine Partei wie für das Ganze, dessen unermüdliche Hingabe der Sozialdemokratie und der von ihr vertretenen Arbeiterklasse galt. Hermann Molkenbuhr, ein Mann, der der Erinnerung bedarf und ihrer wert ist: ein zu unrecht vergessener Führer der deutschen Arbeiterbewegung."

Die finale Würdigung Hermann Molkenbuhrs durch seinen Biografen Bernd Braun lassen die Problematik der vorliegenden politischen Biographie des 1851 geborenen Sozialdemokraten Molkenbuhr erkennen: einerseits ist es Brauns Verdienst, mit seiner auf umfangreichen Archivrecherchen basierenden Biografie Hermann Molkenbuhr vor dem in der Tat unverdienten Vergessen bewahrt zu haben, andererseits gelingt Braun keine distanzierte Darstellung und Vorstellung Molkenbuhrs, so dass die Lebensbeschreibung hagiografische Züge gewinnt. Die menschlichen Seiten des Zigarrenarbeiters, der bis zum Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion aufstieg, werden deshalb eher in den ebenfalls von Bernd Braun (zusammen mit Joachim Eichler) herausgegebenen Tagebüchern Molkenbuhrs sichtbar.

Als Sohn eines verarmten und auf die Stufe eines Proletariers herabgesunkenen Handwerkers hatte Molkenbuhr schon als Zehnjähriger im Industriedorf Ottensen bei Altona die Erfahrung existentieller Not und sozialer Diskriminierung gemacht. Da sich Hamburg zu einer Hochburg der Arbeiterbewegung entwickelte und Tabakarbeiter im Kaiserreich sich durch besonders reges politisches Engagement auszeichneten, war es fast zwangsläufig, dass Molkenbuhr, der seit 1864 zunächst als Hilfsarbeiter, dann als gelernter Zigarrenmacher seinen Lebensunterhalt verdiente, mit der Sozialdemokratie in Kontakt kam. Hatte er zunächst auf Bildung gesetzt, um seine Situation zu verbessern und sich autodidaktisch in den Bereichen Kunst, Kultur, Wissenschaft und Technik fortgebildet, wurde sein Erkenntnisdrang durch die Lektüre der Schriften Ferdinand Lassalles in eine neue politische und sozialistische Richtung gelenkt. Diese fünf Faktoren, Braun weist mehrmals nachdrücklich darauf hin (z.B. S. 23, 66, 368), haben Molkenbuhrs Leben geprägt und ihn zum engagierten Sozialdemokraten gemacht.

1872 wurde Molkenbuhr Mitglied im Ottenser Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, 1875 war der 23jährige einer der jüngsten Delegierten am Vereinigungsparteitag von Lassallanern und Eisenachern in Gotha und kann damit als einer der Gründungsväter der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands gelten. 1881 wurde Molkenbuhr Opfer des von 1878 bis 1890 geltenden "Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". Er wurde aus Hamburg ausgewiesen und emigrierte nach Amerika, von wo er 1884 aus "privaten" Gründen zurückkehrte. Hier und wie bereits im Zusammenhang mit der Darstellung von Kindheit und Jugend Hermann Molkenbuhrs wird deutlich, dass Brauns Anspruch, sich auf eine "politische Biographie" zu beschränken und das Privatleben Molkenbuhrs nur dort zu "berücksichtigen", "wo es für das Verständnis des Politikers relevant ist" (S. 21), nicht nur wenig sinnvoll, sondern unmöglich ist. Molkenbuhrs Ehe war nämlich in der Zeit seiner Abwesenheit in die Brüche gegangen. Friederike Molkenbuhr, die mit zwei kleinen Kindern in Deutschland geblieben war, hatte inzwischen eine neue Beziehung und die Ehe mit Hermann Molkenbuhr wurde 1886 geschieden. Derartige "private" Folgen des Sozialistengesetzes sind ebenso prägend wie die Erfahrung der Verfolgung und das Erlebnis von Rechtlosigkeit und Willkür, die oft wie in Brauns Studie in den Mittelpunkt gestellt werden. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes wurde Molkenbuhr 1890 in den Reichstag gewählt, dem er mit einer kurzen Unterbrechung 1907 bis 1924 angehörte. Von 1891 bis 1904 hat Molkenbuhr sein parlamentarisches Ehrenamt über seine Mitarbeit als Redakteur am "Hamburger Echo" finanziert. Sein Spezialgebiet wurde die Sozialpolitik, deren Probleme er sich nicht nur theoretisch angeeignet hatte, sondern aus eigener Erfahrung kannte. Es ist ein besonderes Anliegen Brauns, vor allem diese Praxisnähe, die die politische Tätigkeit Molkenbuhrs auszeichnete, herauszustellen. Im innerparteilichen Richtungsstreit hielt er zwar am Glauben an das sozialistische Endziel fest, doch setzte er auf kleine Schritte, auf das gegenwärtig Machbare, auf praktische Veränderungen und konkrete Verbesserungen. Er glaubte an den Sieg der sozialistischen Gesellschaft auf evolutionärem, parlamentarischem Weg.

1904 wurde Molkenbuhr in den Parteivorstand gewählt, 1911 wurde er einer der Vorsitzenden der Reichstagsfraktion der SPD. 1914 stimmte er aus Furcht vor dem zaristischen Rußland für die Bewilligung der Kriegskredite und die Politik des "Burgfriedens". Während des Krieges, als Fragen der Außen- und Militärpolitik, der Kriegs- und Finanzwirtschaft im Mittelpunkt des Interesses standen, ließ Molkenbuhrs Präsenz nach. Entgegen der allgemeinen Gewichtsverschiebung zur "hohen Politik" blieb sein Hauptanliegen die Sozialpolitik, die er als genuin sozialdemokratische Aufgabe betrachtete. Deshalb vermisste er nach dem Umbruch 1918 auch eine weiterreichende Sozialisierung und Sozialpolitik. Doch war seine Rolle inzwischen auf diejenige eines kritischen Beobachters beschränkt und eine jüngere Generation war an die Schaltstellen der Macht gelangt. Molkenbuhrs Positionen waren nicht mehr mehrheitsfähig und 1924 musste er sich aus dem Reichstag zurückziehen. Es ist keinesfalls ehrenrührig, dass ihn die Zurücksetzung kränkte und es trübt nicht das hehre Bild der Bescheidenheit, das Braun von seinem Helden zeichnen will, dass auch Molkenbuhr Macht und Anerkennung gewollt und genossen hatte und nun unter ihrem Verlust litt. "Nun bin ich der räudige Hund, den man mit einem Fußtritt beiseite schiebt. Hätte man meine Leistungen objektiv geprüft, dann hätte man doch finden können, dass ich für die Arbeiter gewirkt und für die Partei manches geleistet habe, was uns vorwärts gebracht hat", notiert er verbittert am 11. April 1924 in seinem Tagebuch. Hermann Molkenbuhr starb 1927 als Veteran der Partei.

Molkenbuhr war jedoch nicht nur, wie der Autor wiederholt betont, ein typischer Repräsentant der frühen Sozialdemokratie, sondern ebenso ein Kind der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des Kaiserreichs. Auch das macht seine Biografie und vor allem seine Tagebücher lesenswert. Durch seine journalistische Tätigkeit war er ein besonders aufmerksamer Beobachter seiner Zeit und so begegnen uns immer wieder Themen und Probleme, die das "nervöse Zeitalter" charakterisieren.

Skeptisch, jedoch nicht grundsätzlich ablehnend beobachtet er und erfährt er beispielsweise den Wandel der Geschlechterbeziehungen, erschüttert registriert er die nicht geringe Zahl von Schülerselbstmorden oder äußert sich kritisch zur Todesstrafe. Bedauerlicherweise beginnen die Tagebücher erst mit dem Jahr 1905, so dass die im Rückblick verfassten Lebenserinnerungen, die die Lebensphase von der Geburt bis zum Jahr 1880 schildern, eine interessante und der Veröffentlichung ebenfalls werte Ergänzung der - nicht nur politischen - Biographie Hermann Molkenbuhrs sein könnten.

Bärbel Kuhn, Saarbrücken





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