ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Otfrid Pustejovsky, Die Konferenz von Potsdam und das Massaker von Aussig am 31.Juli 1945: Untersuchung und Dokumentation, Herbig-Verlag, München 2001, 575 S., kart., 79,80 DM.

Am 31. Juli 1945 erschütterte eine Explosionswelle den Ortsteil Schönpriesen der nordböhmischen Industriestadt Aussig an der Elbe (Usti nad Labem). Nach Kriegsende war dort auf tschechische Anordnung eine Sammel- und Lagerstätte für Waffen und Munition aus dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet worden, die unter Aufsicht der tschechoslowakischen Armee stand. Zur Arbeitsleistung in diesem Munitionsdepot wurden tschechische und deutsche Zivilisten sowie deutsche Zivilinternierte des Internierungslagers Aussig-Lerchenfeld herangezogen, in dem unmenschliche Haftbedingungen herrschten. Als Zeitpunkt des Beginns der Explosionswelle wird in den tschechischen Untersuchungsberichten 15:30 Uhr angegeben. Obwohl die Explosionen von der am linken Elbufer gelegenen Stadt Aussig nicht zu sehen waren und nichts über Ursachen und eventuelle Verantwortlichkeiten bekannt sein konnte, begannen fast zeitgleich pogromartige Ausschreitungen gegen Personen, die auf Grund ihrer Sprache oder der ihnen aufgezwungenen weißen Armbinden als Deutsche zu erkennen waren. An vier verschiedenen Stellen der Stadt wurden Menschen – auch Frauen und Kinder – auf die brutalste Art zu Tode geprügelt. Deutsche Antifaschisten, die durch eine andersfarbige Armbinde gekennzeichnet waren, wurden nicht verschont. Von der Elbbrücke wurden zahlreiche Personen in die Elbe geworfen, darunter auch eine Frau mit Kinderwagen. Sicher ist, dass von der Brücke aus mit Pistolen, Gewehren und automatischen Handfeuerwaffen auf in der Elbe treibende Personen geschossen wurde.

Nach vorliegenden Berichten, Zeugenaussagen und Protokollunterlagen dauerte das Massaker etwa zwei Stunden. Gegen 17 Uhr trat ein Krisenstab zusammen, der sich aus Vertretern des örtlichen Nationalausschusses, der politischen Parteien und der Sicherheitspolizei zusammensetzte. Ab 18 Uhr wurde eine Ausgangssperre für Deutsche, ab 20 Uhr eine Ausgangssperre für Tschechen verhängt. Der Krisenstab forderte zusätzliche Sicherheitskräfte aus Prag und Teplitz-Schönau an. Gegen 20 Uhr trafen aus Prag zwei Vertreter des Innenministeriums ein, Stabshauptmann Bedrich Pokorny und der Jurist Dr. Glanz, die die Urachen der Explosionskatastrophe in Aussig-Schönpriesen untersuchen sollten, jedoch nicht das Massaker an der deutschen Zivilbevölkerung. Die Ermittlungen richteten sich einseitig gegen die Deutschen Am 1. August 1945 gegen 10 Uhr trafen Innenminister Gutav Nosek und Verteidigungsminister Ludvik Svoboda in Aussig ein. Auf einer Pressekonferenz erklärte Letzterer, es sei notwendig, mit der deutschen Fünften Kolonne ein für allemal abzurechnen und dem Beispiel der Sowjetunion zu folgen, die die Wolgadeutsche Republik innerhalb von 48 Stunden aufgelöst habe. Pokorny erklärte auf der gleichen Pressekonferenz, dass er über "beweiskräftiges" Material über die Urheberschaft einer organisierten und weit verbreiteten Sabotagetätigkeit von Nazis verfüge.

Dieses Material wurde nie der Öffentlichkeit vorgelegt, es gab nie einen Prozess gegen "Werwolf-Angehörige" oder andere Deutsche vor einem tschechoslowakischen Gericht und auch nach der "Wende" im Jahre 1990 tauchte in tschechischen Archiven kein Beweis dafür auf, dass es sich um einen deutschen Sabotageakt gehandelt habe. Pokorny war ein enger Vertrauter des kommunistischen Innenministers und Organisator des "Brünner Todesmarsches", dem eine große Anzahl von Deutschen zum Opfer fiel. Später wurde er Offizier der tschechoslowakischen Staatssicherheit. 1965 verurteilte ihn ein tschechoslowakisches Gericht zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe, weil er während der stalinistischen Schauprozesse 1951 gegen Untersuchungshäftlinge "physische Gewalt" angewendet hatte.

Über die Zahl der Todesopfer dieses Massakers schwanken die Angaben zwischen 50 und 4000. Der Aussiger Universitätsdozent Radvanovsky gibt eine erwiesene Zahl von etwa 100 Toten, erwähnt allerdings auch, dass wenige Tage nach dem Massaker zwischen Bad Schandau und Dresden etwa 1000 Leichen angespült wurden, die häufig Spuren von Misshandlungen aufwiesen. Er betont jedoch, man könne nicht davon ausgehen, dass alle diese Toten Opfer der Aussiger Ereignisse seien. In verschiedenen Fällen bewahrten Aussiger Tschechen ihnen bekannte Deutsche vor Folterung und Tod, indem sie sie warnten, verbargen und medizinisch versorgten.

Bis heute sind die Ursachen der Explosion ungeklärt. Neben der "Werwolf-These" gibt es die Theorie, ein einzelne deutsche Nazis hätten aus Verzweiflung über die militärische Niederlage Deutschlands ein Selbstmord-Attentat verübt, um den Siegern zu schaden. Auch wenn dies nicht völlig ausgeschlossen werden kann, ist es nicht belegbar. Eine weitere These besagt, ein Flugzeug unbekannter Nationalität habe eine Bombe abgeworfen. Es gibt jedoch keinerlei Bestätigung von tschechoslowakischer, westalliierter oder sowjetischer Seite dafür, dass am 31. Juli 1945 ein Flugzeug eine Strecke über Aussig geflogen sei. Eine weitere These geht von einem unglücklichen Zufall mit weit reichenden, unvorhersehbaren Folgen aus. Für diese Auffassung spricht vieles. Die Vertreter des Örtlichen Nationalausschusses in Aussig berichteten am 1. August 1945 dem Verteidigungsminister über die unsachgemäße Umschichtung von Munition, über die Explosion einer Panzerfaust, über den sorglosen Umgang der jungen tschechoslowakischen Soldaten mit ihren Waffen und sogar von Schießübungen mit scharfer Munition auf dem Gelände des Munitionslagers. Der Ausschuss beklagte sich bei General Svoboda über den ständigen Alkoholgenuss der Soldaten während der Dienstzeit innerhalb des Munitionslagers. Schließlich ist auch nicht auszuschließen, dass deutsche Zivilinternierte aus dem Lager Lerchenfeld aus Ungeschicklichkeit und ohne sachgemäße Anleitung durch ihre tschechischen Aufseher und Vorgesetzten die Explosion ausgelöst haben, zumal auch Frauen zu diesen Arbeiten herangezogen wurden. Svoboda wies jedoch alle Hinweise auf sein Ministerium zurück und beharrte auf der These von den sudetendeutschen "Werwölfen".

Die letzte Vermutung geht schließlich dahin, dass die tschechoslowakische Regierung die Katastrophe inszeniert habe, um den in Potsdam konferierenden Siegermächten die vollständige Vertreibung der Sudetendeutschen dadurch nahe zu legen, dass der "Volkszorn" die Unmöglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen "bewiesen" habe. Dem scheint auch Pustejovsky zuzustimmen: "Nach allem bisher vorliegenden oder bekannt gewordenen Material war keineswegs die Aufklärung einer Explosionskatastrophe als wirkliches Ziel vorgegeben, vielmehr eine dezidierte innenpolitische Schuldzuweisung an die kollektiv als unzuverlässig bezeichnete [...] Bevölkerungsgruppe der Deutschen und eine daraus abgeleitete Rechtfertigungs- und Druckkampagne zur nochmaligen Beschleunigung sowie ungehinderten und international bestätigten Weiterführung der bereits mehr als zwei Monate lang betriebenen Ausweisungsmaßnahmen" (S. 153). Als Indiz führt er Svobodas Äußerung über die Auslöschung der Wolgadeutschen Republik in der Sowjetunion 1941 an. Auch die ausschließlich in Richtung eines von Deutschen durchgeführten Sabotageaktes geführten Ermittlungen werden als Indiz für diese Vermutung herangezogen, jedoch ist auch diese vor allem von vertriebenen Sudetendeutschen vertretene Vermutung bisher nicht beweisbar.

Trotz umfangreicher historischer Forschungen zu diesem Thema – bisher vorwiegend von tschechischer Seite – gibt es weder präzises Material über die Ursache der Explosionskatastrophe, über die Zahl der beim Massaker ermordeten Deutschen, über die Identität der tschechoslowakischen Täter und über einen Zusammenhang mit der Potsdamer Konferenz. Daher geht Pustejovsky einen, wie er selbst sagt, "für einen Historiker ungewöhnlichen Schritt". Er bittet die tschechische Regierung darum, eine Untersuchungskommission einzusetzen, die im Interesse der historischen Wahrheit alle bisher noch ungeklärten und unerklärlichen Tatbestände ermitteln und einen abschließenden Bericht zu den damaligen Ereignissen vorlegen soll. Mit Recht verweist er darauf, dass das "Beschweigen" nur der Legendenbildung auf beiden Seiten neue Nahrung geben und dem friedlichen Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in einem vereinten Europa keinen guten Dienst erweisen würde.

Über 60 zum Teil unveröffentlichte Dokumente aus tschechischen Archiven ermöglichen dem Leser eine intensive Beschäftigung mit den Vorgängen. Ein Kapitel zur Quellen- und Beweislage gibt einen ausführlichen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung. Die Arbeiten tschechischer Historiker, insbesondere von Vladimir Kaiser vom Stadtarchiv Usti/Aussig und von Angehörigen der Jan-Evangelista-Purkyne-Universität in Aussig, werden ausführlich gewürdigt. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis und ein chronologischer Tabellenteil, ein Abkürzungsverzeichnis, ein Personenverzeichnis und ein Ortsregister mit zweisprachiger Konkordanz runden das Werk ab. Die Bibliografie dient nach Aussage des Autors auch "der Darstellung des Gesamtkomplexes", erschwert aber etwas den Zugang zur engeren Problematik. Die Beschäftigung mit einem Teilaspekt der deutsch-tschechischen Nachkriegsgeschichte und die hervorragende Ausstattung des Buches lassen den relativ hohen Preis gerechtfertigt erscheinen.

Johann Frömel, Nürnberg





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