ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Johannes Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933-1945, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2001, 502 S., kart., 51 Euro.

Unter den rund 500.000 aus dem NS-Herrschaftsbereich Vertriebenen und Geflohenen stellten Österreicher nach 1938 mit etwa 130-150.000 Personen einen hohen Anteil. Eine ähnliche Relation findet man im Bereich der Wissenschaftsemigration; zu den mehr als 2.000 Gelehrten, die nach dem NS-Beamtengesetz ihre Positionen verloren und das Land verließen, gehörten mehr als 400 Österreicher. Die Dissertation Feichtingers beschreibt die Ausgangslage der Vertreibung, die Fluchtwege und -bedingungen sowie die Aufnahme der Wissenschaftsemigranten hauptsächlich in Großbritannien und den USA. Dabei konzentriert sie sich auf das Personal der drei Disziplinen Wirtschaftswissenschaften, Rechts- und Politikwissenschaften sowie Kunstgeschichte. Die Theoriedebatten, Fragen des intellektuellen Transfers und wirkungsgeschichtliche Aspekte treten demgegenüber in den Hintergrund.

Während auch die österreichische Wissenschaftslandschaft mit ihren begrenzten Berufsmöglichkeiten an den wenigen Hochschulen und der in den Jahren der Republik zunehmend restriktive Antisemitismus nur einen kleinen Raum der Darstellung einnehmen - immerhin wird dabei auch die Frage der kulturellen Identität von Wissenschaftlern angesprochen, die nach der NS-Definition Juden waren, sowie auf die Ambivalenzen jüdischer Existenzmöglichkeiten im Ständestaat vor 1938 hingewiesen -, nimmt die Darstellung der internationalen "Akademikerhilfe" einen vergleichsweise großen Platz ein, fast ein Fünftel der Darstellung. Das verwundert etwas, weil die Entstehung und Arbeit der zahlreichen Hilfskomitees nach 1933 inzwischen relativ gut untersucht ist und deren Frühgeschichte eigentlich nicht so ganz zum Thema gehört. Ein ähnliches Ungleichgewicht ist auch bei der Disziplinenwahl auszumachen. Angesichts der umfangreich vorliegenden Forschungen zur Emigration der "Österreichischen Schule" der Wirtschaftswissenschaften hätte sich der Autor auf die vergleichsweise weniger bekannte Emigration der Rechtswissenschaftler oder Kunsthistoriker konzentrieren sollen. Gewonnen hätte die Arbeit wohl auch durch eine ausführlichere Darstellung des nur knapp umrissenen Wiener Wissenschaftsmilieus, das sich angesichts der geringen Berufschancen an den Universitäten in zahllosen, personell miteinander verbundenen Gruppen und "Kreisen" zusammenfand und jenseits der akademischen Schulen und Traditionen mit eigenen einzigartigen Forschungsansätzen hervortrat, die ihren Repräsentanten später in der Emigration internationale Reputation verschafften und ihnen mehrheitlich den Übergang zu bemerkenswerten universitären Karrieren ermöglichten.

Dank der detaillierten Gliederung ist der Band auch als Nachschlagewerk von Nutzen, in dem sich der Leser schnell über die wichtigen Disziplin-Vertreter informieren kann.

Max Stein, Düsseldorf





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