ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ian Kershaw, Hitler, Bd. 1: 1889-1936, Bd. 2: 1936-1945, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998 bzw. 2000,, 972 bzw. 1343 S., geb., je 88 DM.

"Dem Führer entgegenarbeiten". Diese Äußerung eines hohen NS-Funktionärs ist das durchgängige, vom Autor zuweilen fast schon gebetsmühlenhaft wiederholte Leitmotiv der insgesamt faszinierenden, zweibändigen Hitler-Biografie von Ian Kershaw, der im ersten Teil den unaufhaltsamen, bis heute immer noch kaum begreiflichen Aufstieg Hitlers im Gefolge der Weltwirtschaftskrise und nach der Machtergreifung beschreibt. Im zweiten Band schildert und analysiert er mit großem Sachverstand Höhepunkt und Untergang eines Systems, dessen Exponent der Prototyp eines Verbrechers war, wie ihn die Welt bisher nicht kannte. Den britischen Historiker interessiert nicht so sehr, wie das bei seinen prominenten Vorgängern Allan Bullock oder Joachim C. Fest der Fall war, die problematische Persönlichkeit Hitlers, sondern er möchte ergründen, warum Millionen diesem Mann "entgegenarbeiteten", indem sie seine Befehle fanatisch und skrupellos ausführten. Nebenbei: Kershaw bemerkt nicht, dass "zuarbeiten" die richtige Vokabel für das wäre, was er am Phänomen Hitler exemplifizieren möchte, denn das Verbum "entgegenarbeiten" ist eher doppeldeutig.

Das symbiotische Verhältnis zwischen Führer und Volk, die Gründe, warum Hitler eine uneingeschränkte Macht besaß und sich bedingungsloser Loyalität versichern konnte, die es ihm erlaubte, viele Deutsche zu Komplizen seiner Verbrechen zu machen, diese Fragen beschäftigen Kershaw weit mehr als alle bisherigen Biografen. Ausgangspunkt seiner Darstellung ist somit die Gesellschaft, die Hitler ermöglichte, nicht die Person, die in einer durch Weltkrieg und Revolution bedrohten Epoche Karriere machte. So bemerkt er einmal: "Das deutsche Volk hat die persönliche Hybris seines Führers geformt, jetzt sollte es alle Auswirkungen davon erleben."

Der erste Band umfasst die Zeit von Hitlers Geburt bis ins Krisenjahr 1936, als das nationalsozialistische Deutschland mit dem Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland das Versailler Vertragssystem zerstörte und den Bruch mit der Außenpolitik der Weimarer Republik vor aller Welt deutlich dokumentierte. Kershaw wollte in seiner Biografie nicht nur die aktuellen Forschungsergebnisse aufnehmen und verarbeiten, sondern sie sollte, wie erwähnt, auf einem völlig anderen Ansatz als die Werke von Fest und Bullock beruhen . Die gesellschaftlichen Bedingungen, die dem gewissenlosen Ideologen eine derartige Karriere ermöglichte, muss demnach im Zentrum seiner Betrachtung stehen, nicht so sehr die Persönlichkeit des deutschen Diktators. Nach der Lektüre der beiden Bände muss man allerdings konstatieren, dass der Autor diesen Anspruch nur zum Teil einlösen kann, denn Hitler bleibt auch in seiner Darstellung der Bezugspunkt aller Aktivitäten, die sein terroristisches Regime kennzeichnen.

Die Entstehung und Ausprägung seiner charismatischen Führermacht, die Erwartungen und Sehnsüchte seiner Anhänger und der Hoffnungen, die sie in ihn setzten, interessiert Kershaw nach eigenem Bekunden weit mehr als die Person des Diktators, deshalb formuliert er am Anfang programmatisch: "Eine Geschichte Hitlers muss daher eine Geschichte seiner Macht sein." Dieses Bekenntnis setzt voraus, dass die politischen und sozialen Strukturen Deutschlands vom Ersten Weltkrieg an stärker als bisher im Mittelpunkt der Betrachtung stehen müssen und weniger das persönliche Leben eines Mannes, über den sein Vertrauter Gregor Strasser einmal sagte: "Er raucht nicht, er trinkt nicht, er isst nur Grünzeug, er fasst keine Frau an." Jüngst hat das Buch "Hitlers Geheimnis" von Lothar Machtan kurzzeitig für Furore gesorgt, als es die angebliche Homosexualität des Diktators zur Erklärung des Phänomens Hitler heranzog. Machtans Resümee: "Das Private kann hochpolitisch sein. Einen besseren Beweis als den, den Hitler mit seiner Lebensgeschichte erbringt, dürfte es daher nicht geben." Kershaw verfolgt einen völlig anderen Weg, die gegenseitige Abhängigkeit von Führer und Volk interessiert ihn weit mehr, eine Beziehung, die Hitler selber einmal so formulierte: "Das ist das Wunder unserer Zeit, dass ihr mich gefunden habt....unter so vielen Millionen! Und das ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück." Heute wissen wir, dass das Gegenteil der Fall war.

Hitlers unaufhaltsamer Aufstieg in der Politik vollzog sich im Kontext von militärischer Niederlage und der Revolution von 1918/19, d.h. er war das Produkt jener "Urkatastrophe" (George F. Kennan), die der Erste Weltkrieg ausgelöst hatte. Die Kindheits- und Jugendgeschichte im Habsburger Vielvölkerstaat, die uns der britische Historiker detailliert und auf überzeugende Weise präsentiert, enthält allerdings wenig Neues. Brigitte Hamanns vorzügliches Buch "Hitlers Wien" aus dem Jahr 1996 ermöglicht es dem Autor, den prägenden Einfluss, den die alte Kaiserstadt an der Donau auf den jungen Hitler ausübte, umfassend zu rekonstruieren und ihn, im Vergleich zu seinen biografischen Vorgängern, überzeugend zu belegen. Der rabiate Antisemitismus, die politische Triebkraft des späteren Diktators, lässt sich in jener Zeit noch nicht feststellen, sondern bricht erst, wie Kershaw minuziös nachweist, 1919 während der kommunistischen Räterepublik in München eruptiv aus. Vor einigen Jahren hat der amerikanische Historiker David Clay Large "Hitlers München" näher unter die Lupe genommen und diese Zäsur im politischen Werdegang eines Mannes markiert, der in dieser kritischen Nachkriegsphase beschloss, "Politiker zu werden." Die Zeit vom Eintritt des durch Krieg und Revolution aus der Bahn geworfenen Hitler in die aktive Politik bis zu seiner unangefochtenen Stellung in der NSDAP – gekoppelt mit der Herausbildung des Führermythos - nimmt im ersten Band der Biografie einen breiten Raum ein; er besticht durch seine detaillierte und problemorientierte Darstellung und Analyse dieser bis heute unbegreiflichen Karriere. Nach der militärischen Niederschlagung der Münchner Räterepublik im Frühjahr 1919 und der sich entwickelnden "Ordnungszelle Bayern" begann im Dunstkreis von Gewalt und Gegengewalt der Aufstieg des Mannes, der auf Grund seines Rednertalents die extremistische Szene in Bayern bald beherrschte. Als man ihm bereits 1921 die Führung in der NSDAP mit diktatorischen Vollmachten übertrug, verstand er sich zunächst als "Trommler" der nationalistischen deutschen Rechten, der sich damit zu begnügen schien, ihr die "Massen" zuzuführen. Der Aufsehen erregende Prozess vor dem Münchner Volksgericht als Folge seines gescheiterten Putsches im Krisenjahr 1923 und vor allem die kurze Haftzeit in Landsberg, wo das Bekenntnisbuch "Mein Kampf" entstand, veränderten Hitlers Selbsteinschätzung grundlegend: Auf sehr überzeugende Weise kann Kershaw diese Wandlung vom "Trommler" zum "Führer" nachweisen, er konstatiert: "Sein geradezu mystischer Glaube an die eigene Person, die mit ihrer Mission zur Rettung Deutschlands den Weg des Schicksals gehe, datiert aus dieser Zeit." Es war die Geburt des "Führermythos", den die Gefolgsleute systematisch aufbauten, landesweit propagierten und damit Hitler zur Integrationsfigur im zerstrittenen nationalistischen Lager machten. Die Jahre zwischen 1924 und der Weltwirtschaftskrise seit 1929 behandelt Kershaw verständlicherweise recht knapp, denn nicht einmal 3% der Wähler optierten in jener relativ stabilen Phase der Weimarer Republik für die NSDAP und ihren demagogischen Führer. Hitler, das zeigt auch diese gut lesbare, materialreiche, durch überzeugende und abgewogene Urteile sich auszeichnende Biografie, war ein Produkt der Krise; sein Durchbruch gelang, als in Deutschland die Massenarbeitslosigkeit und das zynische Taktieren reaktionärer Eliten zur Staats- und Systemkrise führten, wie Henry Ashby Turner Jr. vor einigen Jahren in seiner Studie "Hitlers Weg zur Macht", eindringlich vermittelte. In dieser Phase zwischen 1930 und 1933 wird sehr deutlich dargestellt und analysiert, wie Hitler trotz gewaltiger innerparteilicher Spannungen, die beinahe zur Spaltung der NSDAP führten, unbeirrt sein Ziel verfolgte, Reichskanzler zu werden und sich dabei auf keinerlei Kompromisse mit seinen Widersachern einzulassen. Der Autor schildert plastisch und souverän Hitlers Auseinandersetzungen mit einer umsturzbereiten SA, die Zerreißprobe in der Partei, die sich aus dem Konflikt mit dem populären Gregor Strasser entwickelte, und die ungeheuren Risiken, die seine Alles- oder Nichtsstrategie mit sich brachten. Als Reichspräsident von Hindenburg ihn widerstrebend zum Regierungschef ernannte, erkannte er – genauso wie viele seiner politischen Berater - die Gefährlichkeit des NSDAP-Führers nicht. General Ludendorff, der Putschgenosse aus dem Jahr 1923, hatte den Präsidenten eindringlich vor Hitler gewarnt: "Ich prophezeie Ihnen feierlich, dass dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stürzen und unsere Nation in unfassbares Elend bringe wird. Kommende Geschlechter werden Sie wegen dieser Haltung in Ihrem Grabe verfluchen." Mehr als ein Drittel des ersten Bandes widmet sich dem Ausbau der Hitlerschen Machtposition und dem Weg zur uneingeschränkten Diktatur bis ins Jahr 1936. Die auf allen politischen Ebenen vorhandene Vorstellung, man müsse dem Führer "entgegenarbeiten" und seine destruktive Ideologie in konkrete Politik umsetzen, führte dazu, dass sich das Regime zunehmend radikalisierte, zugleich aber Hitlers Macht festigte. Die gewalttätige Politik der Nationalsozialisten im Umgang mit anders Denkenden akzeptierte die Bevölkerung weitgehend, denn sie sah in Hitler einen dynamischen Führer, noch nicht ahnend, dass er ihr Verführer werden sollte.

Der zweite Band setzt mit dem triumphalen Erfolgen Hitlers im Jahr 1936 ein, als deutsche Truppen ins entmilitarisierte Rheinland einmarschierten und die Naziolympiade das Prestige des Regimes international erhöhte; er endet mit dem Satz: "Eine Walther-Pistole vom Kaliber 7,65mm lag neben seinem Fuß." Durch Selbstmord hatte sich "die verhassteste Gestalt des 20. Jahrhunderts" der Verantwortung für die entsetzlichen Verbrechen entzogen, die von ihm initiiert und zum Inhalt seiner Politik gemacht, von vielen aber ohne Widerstreben umgesetzt wurden.

Das mehr als 1300 Seiten starke, spannend geschriebene Werk, besticht nicht nur durch seine brillante und präzise Darstellung der Ereignisse, sondern auch durch sein klares, sicheres und abgewogenes Urteil. Die zunehmende innere und äußere Radikalisierung des Regimes und seine auf kriegerische Expansion angelegte Dynamik werden im zweiten Band anschaulich geschildert und mit großem Sachverstand kommentiert. Kershaws Behauptung "Im Krieg fand der Nationalsozialismus zu sich selbst" charakterisiert die auf Tod und Zerstörung angelegte Politik der NS-Bewegung und ihres Führers sehr genau. Der von Hitler und seinen ihm treu ergebenen Gefolgsleuten entfesselte Weltkrieg bis zum Untergang der Diktatur nimmt allein mehr als 700 Seiten in dieser grandiosen Biografie ein, die zweifellos bald als ein Standardwerk der Geschichtsschreibung gelten wird. Sehr präzis arbeitet der Autor den durch den Dualismus von Partei und Staat sich verschärfenden "Verwaltungsanarchismus" und das ziellose Improvisieren bei politischen Entscheidungen heraus, aber auch der von Hitler gesteuerte Fanatismus und die Radikalität hoher Funktionsträger wie Heinrich Himmler und Hans Frank in der Rassenpolitik lässt sich nach der Lektüre exakt nachvollziehen. Die besondere Brutalität der deutschen Kriegsführung im Osten, wo der berüchtigte "Kommissarbefehl" Wehrmachtsangehörigen erlaubte, Gefangene "sofort mit der Waffe zu erledigen", hing damit zusammen, dass von Anfang an der Hass gegen den Bolschewismus unlöslich mit dem Antisemitismus verbunden war. Im "Kreuzzug" gegen den "jüdischen Bolschewismus" sahen die von einer destruktiven Ideologie beherrschten Kämpfer Hitlers ihre Erfüllung. Kirchenkampf, Deportationen, Euthanasieaktionen im Innern und die rigorose Politik gegenüber den Juden, deren Spektrum von der geplanten Umsiedlung nach dem "Generalplan Ost" bis zum Genozid reichte, kennzeichneten die entsetzlichen Kriegsjahre. Die unbeschreiblichen Grausamkeiten der Einsatzgruppen, die mit Billigung des Oberkommandos der Wehrmacht unzählige Juden in den besetzten Gebieten kaltblütig und brutal ermordeten, schildert Kershaw auf der Basis gesicherter Quellen, die auch die Aufzeichnungen der Täter, wie die Goebbels’schen Tagebücher und Himmlers jüngst edierten Dienstkalender, umfassen. Hitlers Verantwortung für die Vernichtungspolitik lässt sich den Notizen von Goebbels entnehmen, der einmal fest hielt: "Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen ... Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein." Vor allem die von Elke Fröhlich aus dem Münchner Institut für Zeitgeschichte edierten Goebbels-Tagebücher benutzt Kershaw geradezu exzessiv, sie dienen ihm als wichtige Quellengrundlage, über die frühere Biografen leider nicht verfügen konnten. Der Autor gewinnt dadurch Einsichten in die spezifischen Merkmale der NS-Diktatur und Erkenntnisse über die Stellung des Führers im Geflecht eines chaotischen Herrschaftssystems.

Die Wende von Stalingrad und den anschließenden Weg in den Abgrund, der mit dem körperlichen Verfall des Diktators einherging, beschreibt der britische Historiker bravurös; bestechend ist seine souveräne Beherrschung des kaum noch überschaubaren Quellenmaterials. Kershaws monumentale zweibändige Hitler-Biografie ist zweifellos ein bedeutendes Werk der Geschichtsschreibung, das unsere Kenntnisse über das Verhältnis zwischen dem Diktator und dem "Volk" das, ihn "geformt" und das er in den Abgrund getrieben hat beträchtlich erweitert. Die Dimension dieser Katastrophe ist nach Kershaw ungeheuerlich: "Niemals in der Geschichte ist ein solches Ausmaß an Zerstörung materieller und sittlicher Art mit dem Namen eines einzigen Mannes in Verbindung gebracht worden." Sein britischer Kollege Bullock hat vor mehr als 50 Jahren seine Hitler-Biografie mit dem Wort eines römischen Geschichtsschreibers beendet: "Si monumentum requiris, circumspice" – wenn du sein Denkmal suchst, schau dich um. Er wird uns noch lange beschäftigen, selbst diese große Biografie kann viele Fragen, die sich um den widerliche Gegenstand ranken, nicht schlüssig beantworten.

Diethard Hennig, Langensendelbach





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