ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Grüner, Paul Reynaud (1878–1966). Biographische Studien zum Liberalismus in Frankreich (=Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Band 48), R. Oldenbourg Verlag, München 2001, 426 S., geb., 128 DM.

Paul Reynaud gilt als "einer der innovativsten, mutigsten und engagiertesten Verfechter der innen- und außenpolitischen Konsolidierung Frankreichs" und dennoch haftet gerade ihm das Verdikt des "Totengräbers der Dritten Republik" (S. 1) an. Ob dieses Urteil begründet ist oder nicht, dieser Frage geht Stefan Grüner in seiner nunmehr als Buch vorliegenden Dissertation nach, die der politischen Vita dieses führenden Vertreters des großbürgerlichen rechten Flügels des französischen Liberalismus gewidmet ist. Anhand der Persönlichkeit Reynauds zeichnet Grüner zugleich das Profil liberaler Reformpolitik in der Dritten Republik und setzt einen verdienstvollen Markstein auf dem noch immer weitgehend brachliegenden Feld der Geschichte des französischen Liberalismus.

Der 1878 geborene Reynaud entstammte einer wohlhabenden Familie des mittleren Bürgertums. Zielgerichtet durchlief er das französische Bildungssystem und ließ sich 1908 in Paris als Rechtsanwalt nieder, wo er bald schon auf sich aufmerksam machte. Reynaud fühlte sich dem Erbe seiner politischen Leitfigur Waldeck-Rousseau, einer demokratischen, parlamentarischen, laizistischen und antiplebiszitären Republik verpflichtet. Der Wunsch, diese Ordnung zu bewahren, sie fortzuentwickeln und immun gegen drohende Gefahren von innen und außen zu machen, führte Reynaud 1919 als Mitglied der französischen Abgeordnetenkammer in die aktive Politik; im Zuge des Generationenwechsels der späten Zwanzigerjahre avancierte er neben André Tardieu, Pierre-Etienne Flandin und Louis Barthou zum Protagonisten der neuen Mitte-Rechts-Mehrheit. Tardieu holte Reynaud 1930 erstmals ins Kabinett, wo er bis zum linken Wahlsieg im Mai 1932 als Finanz-, Kolonial- und Justizminister wechselnden Ressorts vorstand. Als Mitglied der außenpolitischen Kommission profilierte sich Reynaud in den Zwanzigerjahren vor allem in Fragen der Deutschlandpolitik. Früh hatte er die zentrale Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses für den Erhalt der Friedensordnung erkannt, Modelle zur sachgerechten Lösung der strittigen Reparationsfrage vorgelegt, den Kontakt zu Berlin gesucht und für die friendensstabilisierende Wirkung wirtschaftlicher Verflechtung geworben. Mit Beginn des Folgejahrzehnts endete für die Französische Republik die Phase relativer innerer Stabilität. Wechselnde Mehrheits- und Regierungsverhältnisse, politische Skandale, das Wiederaufleben der antiparlamentarischen Ligen und die gewaltsamen Unruhen vom 6. Februar 1934 führten die Fragilität der Republik drastisch vor Augen und verlangten drängender denn je nach verfassungsrechtlichen Veränderungen. Reynauds Reformvorschläge zielten auf eine konstitutionelle Stärkung der Exekutive. Anders als etwa sein langjähriger in Freundschaft verbundener politischer Weggenosse Tardieu verließ Reynaud dabei nie den Rahmen des parlamentarisch-demokratischen Systems. Der Grundsatz des Reformierens um zu konservieren galt Reynaud auch hinsichtlich der sozialen und gesellschaftlichen Ordnung. Der Führungsanspruch der bürgerlichen Eliten stand für ihn ebenso wenig zur Disposition wie der Erhalt der Eigentumsverhältnisse. Gleichwohl sollte die Arbeiterschaft am allgemeinen Wohlstand partizipieren, um ihr so die revolutionäre Sprengkraft zu nehmen und sie dauerhaft in die Gesellschaft zu integrieren.

Da stabile politische, soziale und gesellschaftliche Verhältnisse ohne wirtschaftliche Prosperität nicht denkbar waren, galt einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik stets Reynauds ganz besonderes Augenmerk. Reynaud vertraute in klassisch wirtschaftsliberaler Manier auf die Selbstregulierungskräfte der Volkswirtschaft, was ihn zum scharfen Kritiker der Volksfront werden ließ, deren Errungenschaften – wie die Vierzig-Stunden-Woche – er als zuständiger Minister 1938 rückgängig machte. Und doch verzichtete der profilierte Wirtschaftsexperte nicht auf reglementierendende Eingriffe, wenn sie ihm sinnvoll erschienen. So hatte er bereits 1934 nach dem Vorbild von Dollar und Pfund eine Abwertung des Franc gefordert, um Frankreich aus der Weltwirtschaftskrise zu führen. Die politische Klasse seines Landes hatte dem einsamen Rufer damals kein Gehör geschenkt und bis 1936 an der Währung fest gehalten, was Frankreich nachhaltiger in die Krise verstrickte als die übrige Welt, wo der wirtschaftliche Aufschwung 1936 bereits wieder dauerhaft Fuß gefasst hatte. Erst nachdem Reynaud im November 1938 das Finanzressort übernommen hatte, wiesen die französischen Wirtschaftsdaten wieder nach oben.

Die Dreißigerjahre brachten für Frankreich nicht nur innen- und wirtschaftspolitische Herausforderungen. Hitlers Machtübernahme rückte zudem die Frage militärischer Sicherheit in den Mittelpunkt. Gegenüber Deutschland verfolgte Reynaud eine "Doppelstrategie" (S. 179 und 302), die den friedlichen Interessenausgleich nicht ausschloss, zugleich aber alles daran setzte, die militärische Überlegenheit zu bewahren und auszubauen. Skeptisch hinsichtlich der Tauglichkeit des in Genf verfolgten Prinzips kollektiver Sicherheit, plädierte Reynaud ganz im Sinne Barthouscher Außenpolitik für die Stärkung des französischen Allianzsystems, verstärkt um ein Bündnis mit der Sowjetunion. Zugleich machte er sich auf politischer Bühne 1935 zum Fürsprecher von de Gaulles Gedanken der Entwicklung selbstständiger Panzerverbände, was im Kern nicht weniger bedeutete als eine völlige Revision der auf die Defensive ausgerichteten französischen Sicherheitsdoktrin. Auch mit dieser weit gehenden Forderung fand er kein Gehör. Selbst wenn der Aspekt der Verständigung nie völlig verschwand, galt Reynaud als Mann der Entschlossenheit und Härte gegenüber den europäischen Diktaturen. Im Kabinett Daladier profilierte sich der "dur" (S. 300) gezielt als Gegenspieler des konzessionsbereiten Außenministers Bonnet und schließlich auch als Alternative zum wankelmütigen Ministerpräsidenten selbst. Die subtile Taktik zeigte am 21. März 1940 ihre Wirkung: Reynaud trat die Nachfolge des gescheiterten Daladier an.

Die Hoffnungen, die in Reynaud gesetzt wurden, waren groß. Sein Name stand für eine energische Kriegführung und genau das erwartete man von ihm. Doch war der außen- und innenpolitische Gestaltungsspielraum von Anfang an gering und schrumpfte mit dem Beginn der deutschen Offensive am 10. Mai immer weiter. Reynaud vermochte es nicht, der Entwicklung eine entscheidende Wendung zu geben und verspielte durch unglückliches Agieren auch noch den letzten Rest Handlungsfreiheit. Seine Strategie hatte versagt, die Gruppe der Befürworter eines Waffenstillstands im Kabinett die Oberhand gewonnen. So blieb Reynaud am 16. Juni 1940 nur der Rücktritt mit der trügerischen Zuversicht, dass die erwarteten Wogen der Empörung über die deutschen Waffenstillstandsbedingungen ihn wenig später doch wieder in die Ministerpräsidentschaft zurückspülen könnten. Doch es kam ganz anders: Reynauds Rücktritt machte den Weg frei für den Waffenstillstand, dem die Selbstauflösung der diskreditierten Dritten Republik und der Übergang in den autoritären Etat français unter der Führung Marschall Pétains folgten. Indem sich der erklärte Gegner einer Kampfeinstellung nicht entscheiden konnte, seinem Staatssekretär de Gaulle ins Londoner Exil zu folgen, beging Reynaud sodann den "gravierendsten Fehler seiner politischen Laufbahn" (S. 345). Ihn büßte er in Frankreich mit seiner Verhaftung durch das neue Regime, Anklage im Prozess von Riom, Haft, zunächst in Frankreich, dann in Deutschland, bis ihn amerikanische Truppen im Mai 1945 befreiten.

Paul Reynaud verkörperte eine eigentümliche Mischung von "Innovation und Traditionsbewahrung" (S. 5). Seine Modernisierungskonzepte erschienen den Zeitgenossen allzu extrem und führten ihn – selbst in der eigenen Partei – in die politische Isolation. War schon sein Herkunftsmilieu kaum dazu angetan, aus ihm einen in breiten Bevölkerungsschichten populären Politiker zu machen, so taten sein Ehrgeiz, sein Hang zur Intrige und seine aggressive Intelligenz ein übrigens dazu bei, Reynaud zum politischen Einzelgänger zu stempeln, der gegen die reformresistenten Kräfte der Dritten Republik keine fundamentalen Veränderungen durchzusetzen vermochte. Dass es just Reynaud, Protagonist einer festen parlamentarischen Ordnung, war, der im Sommer 1940 den Weg frei gab zu jener personellen Konstellation, die zur Selbstauflösung der Republik führte, ist "eine traurige Ironie der Geschichte" (S. 340).

Stefan Grüner deduziert aus einer breiten Quellengrundlage gekonnt und umsichtig das Porträt einer streitbaren und umstrittenen Persönlichkeit. Dabei ist der Autor kein Freund (vor)schneller Urteile. Motiven, Optionen und Zielen geht er beharrlich bis auf den Grund nach, ohne sich im Detail zu verlieren. Nuanciert und abgewogen in der Argumentation, scheut er jedoch keineswegs vor klaren Worten zurück. Eine auf vollständige Dokumentation zielende politische Biographie mit klassisch chronologischer Ordnung wollte Grüner nicht schreiben. Statt dessen hat er erkenntnis- und forschungsorientiert Themenfelder ausgewählt und sich seinem Untersuchungsgegenstand je nach Bedarf auf institutions- oder ideengeschichtlichen, diplomatie- oder wirtschaftsgeschichtlichen Wegen genähert. An konkreten Sachfragen hat er so politischen Denk- und Handlungsstränge bloß gelegt und zugleich in politischen Traditionen verortet. Das Ergebnis ist weit mehr als nur eine politische Biografie, es ist ein profunder Beitrag zur Geschichte der Dritten Republik.

Corinna Franz, Bonn





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