ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Helmut Schmersal, Philipp Scheidemann 1865-1939. Ein vergessener Sozialdemokrat, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main u.a. 1999, 298 S., brosch., 89 DM.

Der Titel der Bonner Dissertation von Helmut Schmersal täuscht ein wenig: Vollkommen in Vergessenheit geraten ist Philipp Scheidemann nicht, findet sich doch auch heute noch in fast jedem Schulbuch im Abschnitt über die Novemberrevolution jenes Foto, das am 9.11.1918 aufgenommen wurde und ihn, im Fenster des Reichstagsgebäudes stehend, anlässlich der Ausrufung der Republik zeigt. Zweifellos aber ist Helmut Schmersals Bemerkung zuzustimmen, dass Philipp Scheidemann eine Figur war, über die als Person wie als Politiker die zeitgenössischen Urteile und gleichfalls die Einschätzungen der historischen Forschung in erheblichem Maße divergieren. Helmut Schmersals Anliegen, dem er – das sei vorweggenommen – nur in begrenztem Maße nachkommen kann, ist es nun, Philipp Scheidemann "den ihm gebührenden Platz einzuräumen" (S.11).

In den Grundzügen ist die Biografie schnell umrissen: Philipp Scheidemann, 1865 in Kassel als Sohn eines Handwerksmeisters geboren, wies einen ähnlichen Lebenslauf auf wie viele andere SPD-Politker jener Zeit. Häufig entstammten sie einem eher kleinbürgerlichen als proletarischen Milieu, fielen in der Schule durch gute Leistungen auf, blieben aber vom Besuch "höherer" Lehranstalten ausgeschlossen, absolvierten eine Handwerkerlehre, begaben sich auf die Walz und stießen in dieser Lebensphase irgendwann auf die Sozialdemokratie. Hier begann ihre Arbeit in lokalem Rahmen, häufig indem sie für örtliche Parteizeitungen arbeiteten. Dies war auch der Weg Philipp Scheidemanns, der eine Schriftsetzerlehre absolvierte, für mehrere, meist hessische Parteizeitungen arbeitete, 1903 in Solingen erstmals ein Reichstagsmandat errang und 1913 Vorsitzender der Fraktion im Reichstag wurde.

Die Darstellung der folgenden sechs Lebensjahre Philipp Scheidemanns nimmt in Helmut Schmersals Arbeit etwa 150 von insgesamt 270 Druckseiten ein. Dies zeigt bereits, dass der Schwerpunkt auf einer Darstellung der Funktionen und Ämter Philipp Scheidemanns in der politischen Arbeit der MSPD liegt. Hier gelingt es Schmersal, die verschlungenen Wege der Fraktionsbildungen in der SPD bis zur Spaltung der Partei nicht nur nachzuzeichnen, sondern sie im Hinblick auf die Rolle Scheidemanns zu fokussieren und dabei insbesondere das schwierige Verhältnis zu Friedrich Ebert genauer zu untersuchen.

Es bleibt aber die Frage, wie Helmut Schmersal sein Ansinnen verwirklicht, "den gebührenden Platz" Philipp Scheidemanns zu finden. Scheidemann, so schreibt Schmersal, sei eine schwierige Persönlichkeit gewesen, auf der einen Seite nachtragend und "von persönlichen Ressentiments" (S. 275) insbesondere gegenüber Friedrich Ebert geleitet. Auch sei er als rhetorisch versierter Politiker mit einem ausgesprochenen Hang zur Selbstdarstellung aufgetreten. Auf der anderen Seite habe er aber Prinzipientreue gezeigt – Schmersal verweist auf eine lebenslang praktizierte, ablehnende Haltung gegenüber Alldeutschen und Antisemiten. So entsteht am Ende das Bild eines Realpolitikers, dessen Handlungsweisen flexibel, nicht aber ohne Grundsätze angelegt waren.

Insgesamt wird Schmersal jedoch seinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Der Arbeit mangelt es letztlich an einem methodischen Ansatz, der über eine beschreibende Darstellung von Scheidemanns politischem Handeln hinausgeht. Gewiss ist die Quellenlage problematisch, denkbar wäre jedoch ein Zugang, der die Figur stärker in ihren lebensweltlichen Bezügen jenseits der Parteiarbeit verortet - hier ließe sich etwa ein generationenspezifischer Zugriff vorstellen, der nach Brüchen und Kontinuitäten fragt, die Sozialisation stärker ins Blickfeld nimmt oder die auf den ersten Blick weniger spektakulären Lebensjahre des Protagonisten erhellt. In diesem Zusammenhang wäre es weiterhin interessant, Scheidemanns Figur stärker im Kontext der intellektuellen und kulturellen Strömungen der Zeit zu sehen, aus denen er die Ressourcen seines Handelns geschöpft haben muss.

Thomas Siemon, Wilhelmshaven





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