ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Charlotte Tacke (Hrsg.), 1848. Memory and Oblivion in Europe, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main u.a. 2000, 183 S., brosch., 60 DM.

Dieses Buch ist verdienstvoll: Es verschafft einen ersten Überblick und eine vorläufige Antwort auf die Frage, ob 1998 gleichsam ein deutscher Sonderweg der Erinnerung und Traditionsbildung beschritten wurde - oder nicht. 150 Jahre nach "1848" wurde die Revolution von 1848/49 in der Bundesrepublik extensiv gefeiert. Historiker, Journalisten und Heimatforscher warfen, von zahlreichen Verlagen unterstützt, Hunderte von Buchtiteln auf den Markt. Während teilweise hochkarätig besetzter, staatstragender Veranstaltungen wurde der Paulskirche und anderer Spielarten bürgerlich-seriöser Politik gedacht. In zahllosen, "von unten" organisierten kleineren Veranstaltungen huldigte man dem rebellischen Geist der Revolutionsbewegung.

Wer glaubt, dem sei in anderen Ländern genauso gewesen, irrt. Dass in Frankreich (wie dem Beitrag von Jean-Luc Mayaud zu entnehmen ist) sich 1998 (stärker noch als 1948) die Erinnerung an die "Kleine Revolution" von 1848 auf einige wenige wissenschaftliche Konferenzen und kleinere Ausstellungen beschränkt hat und weder der Februar- noch der Junirevolution in staatstragenden Ritualen gedacht wurde, kann kaum überraschen. Dazu waren die Schatten der "Großen Revolution" von 1789 zu lang; 1848 schien eine bloße Wiederholung der ersten, sehr viel nachhaltigeren gesellschaftlichen Umwälzung oder – in anderer Perspektive – ein Teil der Vorgeschichte der späteren Arbeiterbewegung zu sein. "1848" führte in der französischen Erinnerungskultur immer schon ein Nischendasein. Nur 1898 hatten die großen Zeitungen Frankreichs für Erinnerungspolitik noch weniger Platz. Sie waren von einem anderen großen Thema ganz in Anspruch genommen, von der Dreyfus-Affäre: Ausgerechnet auf den 24. Februar 1898 datiert Emile Zolas berühmte Erklärung "J‘ accuse" in Le Figaro.

Dass in Belgien und in Norwegen (wie in zwei weiteren Aufsätzen gezeigt wird) 1998 der Revolution 150 Jahre zuvor gleichfalls kaum bzw. nicht gedacht wurde, erstaunt ebenso wenig; beide Länder wurden von den Erschütterungen des Jahres 1848 nur flüchtig gestreift. Es überrascht indes, dass auch in Italien, das im vorliegenden Band leider mit keinem Einzelbeitrag gewürdigt wird, kaum an die Revolution von 1848/49 erinnert wurde – war doch hier das Revolutionsjahr ähnlich wie im deutschen Raum ein erster Anlauf, die nationale Einigung durchzusetzen. Eine Erklärung, die Charlotte Tacke im Anschluss an S. Soldani in der Einleitung anbietet: Das Ende des Kalten Krieges habe auch die (von PCI/PDS schon lange zuvor begrabene) ideologische Teilung Italiens beendet und die "klassische" Konkurrenz der "revolutionären" Traditionsbildung überflüssig gemacht. Warum auf der Apenninhalbinsel die Ereignisse von 1848/49 aus dem öffentlichen Gedächtnis geradezu getilgt scheinen, bleibt dennoch eine offene Frage – wenn man die deutsche und die italienische Erinnerungskultur miteinander vergleicht: Während in Italien derzeit die eigentliche Nationalstaatsgründung 1859-1866 den revolutionären Vorlauf gänzlich zu überstrahlen scheint, drückten die mitunter enthusiastischen Revolutionsfeiern im neu-vereinigten Deutschland 1998 den hundertsten Todestag des Reichsgründers Bismarck im öffentlichen Bewusstsein weitgehend in den Hintergrund. Vielleicht kommen darin gegenläufige Entwicklungen der aktuell-politischen Kulturen zum Ausdruck: Während Berlusconis Italien immer weiter nach rechts treibt, ist in der Bundesrepublik das Bemühen um gesellschaftliche Verankerung substanziell-demokratischer Traditionen unübersehbar.

Ähnlich wie für die nationale Erinnerungskultur des heutigen Italiens war und ist "1848" auch für die Traditionsbildner in Polen lediglich ein Glied in einer längeren Kette – vergeblicher – Versuche, Freiheit und nationale Unabhängigkeit zu gewinnen. Aber nicht nur deshalb, so führen Czeslaw Majorek und Henryk Zalinski in ihrem Beitrag aus, ging 1998 das Gedenken an 1848 zurück "to a point near oblivion" (lediglich zwei seriöse Artikel zu 1848 seien in polnischen Tageszeitungen publiziert worden). Auch die Erinnerung an die Vereinnahmung der Tradition von 1848 durch den realsozialistischen Staat während der 100-Jahr-Feiern 1948, mit dezidiert antiborussisch-deutscher Stoßrichtung, mag fünfzig Jahre später, 1998, von einem intensiveren Gedenken abgeschreckt haben. Erinnerungspolitisch entscheidend war, dass die nationalpolnischen Revolten 1848 regional (nämlich auf Krakau und Posen) begrenzt blieben. Denn Tradition und Erinnerung muss, keineswegs nur in Polen, jeweils aktuell-politisch funktionalisierbar sein – und in dieser Hinsicht hat sich gerade bei unserem östlichen Nachbarn sehr viel verändert: 1898, in der zwangsläufig "privaten" Erinnerungskultur "historischer Enthusiasten", und weit stärker noch 1948 stand der Feind vor allem im Westen. Heute hat sich der Wind bekanntlich um 180 Grad gedreht. Wenn politische Bedrohung, dann aus der Sicht der meisten Polen aus dem Osten. 1848 wurde nur der Westen des dreigeteilten Polens in die europäische Revolution hineingezogen. In Kongresspolen als dem zaristisch beherrschten Teil des Landes . Ein staatstragendes Gedenken an 1848 schien aus der Sicht des "neuen Polen" 1998 deshalb politisch nicht angezeigt.

Aus wieder anderen Gründen ist 1848 im kollektiven Gedächtnis Dänemarks und Österreichs kaum präsent: In Dänemark, das 1848 politisch kräftig durchgerüttelt wurde (obwohl es dort nicht zu einer Revolution im engeren Sinne des Wortes kam), wurde das "tolle Jahr" – das für die dänische Krone außenpolitisch ja durchaus erfolgreich verlief – in der öffentlichen Erinnerung der folgenden anderthalb Jahrhunderte durch die schwere Niederlage gegen Preußen-Österreich von 1864 verdunkelt. Auch hier spielten die jeweils aktuellen Konstellationen eine entscheidende Rolle: 1948 war die Besetzung Dänemarks durch NS-Deutschland im kollektiven Gedächtnis präsent. "The atmosphere offered no possibility to liberate 1848 from the post-1864 interpretation." Sten Bo Frandsen räumt in seinem instruktiven Beitrag überdies mit dem – durch die letzten Wahlen (2001) auch für Nicht-Historiker eingetrübten - Klischee von dänischer Liberalität im Sinne von Pluralität der Anschauungen auf: "Danish history and Danish collective memory is monolothic, it does not have much space or tolerance for dissidents."

In Österreich wiederum wurde der Revolution 1998 zwar intensiver gedacht, als man angesichts der Probleme, nationale Traditionslinien zu 1848 im Habsburgischen Vorgängerstaat zu ziehen vielleicht vermuten sollte. Dennoch stellte Sissi am Ende des 20. Jahrhunderts die Revolution von 1848 eindeutig in den Schatten, jedenfalls quantitativ: Über die österreichische Kaiserin, die 1898 verstarb, wurden 85 wissenschaftliche (?) Aufsätze publiziert, über die Revolution lediglich 17. Nicht nur Sissi und die Schwierigkeit, von der Habsburgermonarchie zum heutigen Österreich demokratische Traditionslinien zu ziehen, erschweren dem südlichen Nachbarstaat der Bundesrepublik ein ungebrochenes Gedenken an 1848/49, auch ein eher zufälliges Kuriosum: 90 Jahre nach der Wiener Revolution, am 13. März 1938, verkündete Hitler unter dem Jubel hunderttausender Wiener den "Anschluss" an Deutschland – auch dies ein Ereignis, das in Österreich eine uneingeschränkt positive Revolutionserinnerung erschwert(e), wie James Kay und Isabelle Matauschek in ihrem Beitrag anmerken, in dem sie außerdem die unterschiedlichen politischen Fassetten der österreichischen Erinnerungskultur thematisieren.

Manfred Hettling fasst in seinem Beitrag die sich stetig erneuernde historische Erinnerung und Traditionsbildung zunächst treffend mit der Metapher des zerbrochen Spiegel, dessen Teilstücke immer wieder neu "kunstvoll" zusammengesetzt werden ("art of construction"), um dann anschließend die Geschichte der vielfach gespaltene Erinnerungskultur in Deutschland während der letzten 150 Jahre zu skizzieren. Interessant u.a. seine Bemerkung, dass 1947 zwar die Frankfurter Paulskirche wieder aufgebaut wurde, mit der Entscheidung für Bonn als neuer Hauptstadt jedoch "the developing Federal Republic avoided grabbing onto the tradition of 1848". Das habe sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten gründlich geändert: "1848 appears – after 1989 – as a light at the end of the tunnel when we look into the German past." Völlig zu recht schließt er seinen Blick in den Spiegel der aktuellen historischen Erinnerung in Deutschland mit der kritischen Bemerkung ab, "the open and conscious rupture with authority is absent". "Erinnern, wiederholen und durcharbeiten" , so Hettling in Anlehnung an Freud, sollte man sich nicht allzu leicht machen, indem man (so Hettling mit Blick auf einen impliziten, aktuellen Forschungstrend) die (Teil-)Erfolge der Revolution in den Vordergrund schiebt. Historiker müssten vor allem das Scheitern der Revolutionsbewegung in das Zentrum ihrer Betrachtungen stellen.

Angesichts der in dem Band versammelten Beiträge und der "Revolutionseuphorie" 1998 vor allem im Südwesten der Bundesrepublik könnte man annehmen, es gebe inzwischen einen deutschen Sonderweg der Erinnerung und Traditionsbildung an 1848. Dieser Eindruck kann freilich nur entstehen, weil wichtige europäische Länder in dem Band nicht mit eigenen Beiträgen vertreten sind. Insbesondere in Ungarn (darauf weist Charlotte Tacke in ihrer Einleitung hin), aber auch z.B. in Kroatien dürfte der Revolution von 1848/49 im Jahre 1998 intensiv gedacht worden sein – als der entscheidenden Quelle politischer Nationsbildung. Der berühmte "15. März 1848" ist in Ungarn seit dem 19. Jahrhundert omnipräsent und in den letzten Jahrzehnten keineswegs zufällig Nationalfeiertag unter den unterschiedlichsten Regimen geblieben. Und das offizielle Kroatien saugt ebenso wenig zufällig nationale Identität aus einem ziemlich unhistorischen Kult um den Banus Jellacic, eine der zentralen Figuren der habsburgischen Gegenrevolution 1848/49.

Rezensenten sind Meckerer. Wenn ich etwas kritisch anzumerken habe, dann nur, dass nicht alle Nationen und ihre 48er-Erinnerungskultur (neben den genannten Ländern fehlt vor allem die Schweiz) in dem von Charlotte Tacke herausgegeben Bändchen vertreten sind. Für Revolutionshistoriker und solche, die es werden wollen, bleibt das Büchlein dennoch unverzichtbar.

Rüdiger Hachtmann, Berlin





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