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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp - Frankreich im Vergleich, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, 476 S., geb., 98 DM.

Historiker und Verlage haben die Geschichte Europas als Wachstumsmarkt entdeckt. Das kann nicht verwundern. Das entstehende "Haus Europa" verlangt nach Vergangenheit. Historiker bieten sie. Doch das kann in unterschiedlicher Weise geschehen. Die Geschichte der Europaideen nachzuzeichnen gehört zu den langweiligeren Varianten. Martin Kirsch wählt den schwierigsten und reizvollsten Weg. Er fahndet nach strukturellen Gemeinsamkeiten, die sich ungeplant, gleichsam hinter dem Rücken der Akteure und Denker im Jahrhundert der nationalen Vielfalt in Europa entwickelt haben. Im monarchischen Konstitutionalismus erkennt Kirsch eine solche Gemeinsamkeit: Einen europäischen Verfassungstyp, der in drei Ausformungen die Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates geprägt habe. Der monarchische Typus des Konstitutionalismus, nicht ein parlamentarischer oder präsidialer Typus, habe den "verfassungshistorischen ‚Normalfall’ der europäischen Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert" (S. 24) verkörpert. Diese Hauptthese pointiert der Autor noch, indem er hinzufügt: Der Übergang vom monarchischen Konstitutionalismus in den parlamentarischen Verfassungsstaat war keineswegs der europäische "Normalweg". Ihn ging im späten 19. und im 20. Jahrhundert ein Teil der Staaten Kontinentaleuropas; ein anderer Übergang führte hingegen zu autoritären Regimen. Die dualistische Struktur des monarchischen Konstitutionalismus, die ein fragiles, aber handlungsfähiges und konflikttaugliches Zusammenwirken von Monarch und Parlament erforderte und ermöglichte, sei also nicht darauf ausgelegt gewesen, zu Gunsten des Parlaments aufgelöst zu werden. Das Maß und die Geschwindigkeit, in der sich ein Staat im Verfassungsrecht und in der Verfassungswirklichkeit dem Parlamentarismus angenähert habe, könne also nicht als Messlatte für politische Modernität gelten.

Mit dieser Deutung greift Kirsch eine alte Debatte auf, deren Grundpositionen noch heute in den Kontroversen über "Sonderwege" – insbesondere über einen deutschen Sonderweg in die Moderne - gegenwärtig sind. Dem Autor gelingt es, ohne Polemik, aber bereit zum dezidierten Urteil, diese Kontroversen aufzunehmen und innovative Antworten vorzuschlagen. Er kann das, weil er mit bewundernswert breitem Blick nationalgeschichtliche Perspektiven relativiert und auch verwirft, indem er die europäische Verfassungsgeschichte typologisch zu erfassen sucht. Im Mittelpunkt der Studie stehen die Entwicklungen in Frankreich, Deutschland, Belgien und Italien, doch Großbritannien ist als Kontrastfolie präsent und eine Vielzahl weiterer Staaten werden punktuell einbezogen. "Europäisch" ist hier kein Etikett auf einer Ansammlung von Nationalgeschichten, denn Kirsch bestimmt präzise den Vergleichsfokus – monarchischer Konstitutionalismus als ein eigenständiger Verfassungstyp –, um dann die nationalen Entwicklungen vergleichend diesem Typus zuordnen zu können.

Der Typus monarchischer Konstitutionalismus, wie ihn Kirsch entfaltet, setzt voraus, die Definition von "Monarchie" funktionalistisch zu erweitern. Die Existenz einer Dynastie gilt zwar als Normalfall, doch den Typus sieht der Autor auch als gegeben an, wenn die Position eines Erbmonarchen "durch einen Konsul oder Kaiser oder Präsidenten einer Republik übernommen wurde" (S. 46). Durch diesen definitorischen "Kunstgriff" – so der Autor selber (S. 45) – kann Frankreich als Musterland dieses Typus behandelt werden, bevor Ende der 1870er-Jahre der Übergang zum parlamentarischen Verfassungstypus gelingt. Wie Kirsch in eingehenden Analysen seine Deutung der französischen Entwicklung begründet, muss hier nicht nachvollzogen werden. Es genügt fest zu halten, dass Kirschs gesamte Interpretation der kontinentaleuropäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert auf seinem funktionalistischen Verständnis der Monarchie aufbaut. Wer diese Interpretation verwirft, entzieht dem Bild einer kontinentaleuropäischen Gemeinsamkeit im Verfassungstypus des monarchischen Konstitutionalismus die Grundlage. Doch selbst dann bliebe dieses Werk stimulierend und innovativ, denn es zwingt dazu, die geläufigen nationalspezifischen Deutungen zu überprüfen.

Kirsch lehnt es ab – dies ist die Hauptstoßrichtung seiner komparatistischen Argumentation –, den Verfassungstyp monarchischer Konstitutionalismus in nationale Sonderformen zu zerlegen. Er schlägt stattdessen vor, innerhalb dieses Typus drei Erscheinungsformen zu unterscheiden, die sich nicht national zuordnen lassen, sondern innerhalb der untersuchten Staaten Europas zu unterschiedlichen Zeiten vorherrschten, abgelöst wurden und auch wiederkehren konnten: Erstens die konstitutionelle Monarchie mit dominierendem Parlament; zweitens die bonapartistische Variante der konstitutionellen Monarchie, gekennzeichnet durch die Verbindung von Staatsstreich und Plebiszit; drittens die konstitutionelle Monarchie mit Vorrang des Monarchen. Diese drei Erscheinungsformen, die alle in Frankreich, der verfassungsgeschichtlichen Modellnation Kontinentaleuropas, am frühesten und entschiedensten realisiert worden sind, unterschieden sich zwar hinsichtlich der machtpolitischen Kräfteverteilung, doch ihre Gemeinsamkeit sieht Kirsch in dem grundsätzlich dualistischen System, das ein Zusammenwirken von Monarch und Parlament voraussetzte, wenn auch die Machtbalance sich veränderte. Diese Konstruktion eines in sich variablen Verfassungstypus ermöglicht es dem Autor, die nationalen Besonderheiten anders als bisher üblich zu charakterisieren. So arbeitet er, um nur einiges zu nennen, in der wechselvollen Geschichte französischer Verfassungsverhältnisse den monarchischen Konstitutionalismus als durchgehende Grundlinie heraus, die erst 1877 mit dem Übergang in den "parlamentarischen Konstitutionalismus" endete. Und die deutsche Verfassungsgeschichte wird "normalisiert", indem die Parlamentarisierungsanläufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der 1860er-Jahre, aber auch die Reichsverfassung von 1871 durch Vergleich "europäisiert" werden. Als spezifisch deutsch erweist sich in Kirschs weiter europäischen Perspektive lediglich die föderative Ordnung.

Wer sich mit der politischen Geschichte Europas im 19. Jahrhundert befasst, darf dieses Werk nicht übersehen. Dies von einer Dissertation sagen zu können, widerspricht allen, die meinen, Universitätsreformen in Deutschland nur durch Klagen über vermeintliche Niveauverluste in der Forschung rechtfertigen zu können. Doch es zeigt auch, dass der deutsche Weg zur gesicherten universitären Position inzwischen Qualifikationsstufen errichtet hat, die nicht mehr vernünftig sind. Welche qualitative Steigerung soll denn nach einer solchen Dissertation - sie ist kein Einzelfall, wenn auch nicht die Normalität – noch folgen? Die Karrierewege britischer oder amerikanischer Universitäten honorieren solche Leistungen; zumindest können sie es. Der deutsche Hasard zeigt sich davon hingegen unberührt.

Dieter Langewiesche, Tübingen





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