ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan-Ludwig Hoffmann, Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840-1918, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, 425 S., kart., 68 DM.

Mit der Freimaurerei verbindet sich gemeinhin das Bild einer international verzweigten Geheimgesellschaft, auf die sich immer wieder düstere Verschwörungsszenarien projizierten. Von daher mag es zunächst einmal erstaunen, wenn Stefan-Ludwig Hoffmann in seiner Arbeit zur deutschen Freimaurerei zwischen Vormärz und Erstem Weltkrieg die Logen als Orte behandelt, in denen lokale Bürgergesellschaften zivilgesellschaftliches Handeln erprobten und sich bürgerliche Öffentlichkeit entfaltete. Hoffmanns Studie ist – ganz auf der Linie der neuen Bürgertumsforschung – um die Schlüsselbegriffe "Bürgerliche Gesellschaft" und "Bürgergesellschaft" angelegt. Bürgerliche Gesellschaft meint hier die Zielvision einer Gesellschaft, die sich neben Markt und freiheitlicher Verfassung auf die Moralität – die "Tugend" – der Bürger gründet, welche sie im geselligen Umgang miteinander gewinnen und ausformen. "Bürgergesellschaft" bezeichnet die lokale, politisch-sozial begrenzte historische Konkretisierung dieser Vision, wie sie sich im "langen" 19. Jahrhundert herausbildete .

Allerdings bezieht Hoffmann in seinen Grundannahmen, die er an den Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt, sowohl eine Position kritischer Distanz zu den Paradigmen der Bielefelder wie der Frankfurter Bürgertumsforschung. Einerseits wendet sich der Autor mit der These, dass den Bürgern der Zusammenhang von Bürgermoral und Bürgergesellschaft nirgendwo in Europa so vertraut war wie gerade in Deutschland, gegen die lange Zeit verbreitete Diagnose, welche dem deutschen Bürgertum einen Mangel an "Bürgerlichkeit" zuschreibt und damit ein wichtiges Element des deutschen "Sonderwegs" umreißt. Andererseits widerspricht Hoffmann mit der Grundannahme, dass die Spannung zwischen universalen Ansprüchen und sozialmoralischer Exklusivität von Anfang in der Vision der Bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich in den lokalen Bürgergesellschaften konkretisierte, angelegt war, einer Lesart, die das städtische Bürgertum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts am Aufbau einer "klassenlosen Bürgergesellschaft" sieht. Am Spannungsverhältnis von Universalismus und Exklusivität entwickelt Hoffmann vielmehr seine eigene Lesart der Beziehung von Bürgertum und Bürgerlicher Gesellschaft: Dem erklärten Streben der Bürger im Allgemeinen und der Freimaurer im Besonderen, den Einzelnen, die Nation oder die Menschheit zu "versittlichen", stehe ein Gefühl der Bedrohung gegenüber, das umso stärker wurde, je mehr sich Bürgerlichkeit ("Zivilität") als kulturelles Muster verallgemeinerte. "Das Andere", so bringt Hoffmann dieses Paradoxon auf den Punkt, sollte einbezogen, zivilisiert werden, im "allgemein Menschlichen" aufgehen und doch ließ sich die eigene überlegene Zivilität nur behaupten, solange es ihr Gegenteil gab (S. 15).

Die Herausforderung, eine Studie der deutschen Freimaurerei in diesen anspruchsvollen Erkenntniszusammenhang einzubetten, hat Hoffmann in seiner Arbeit in eindrucksvoller Weise umgesetzt: Er verfolgt die Geschichte der Freimaurer auf einer nationalen wie – mit Blick auf Preußen und Sachsen – einer regionalstaatlichen Ebene, um dann die Freimaurerlogen exemplarisch in den lokalen Bürgergesellschaften der Städte Breslau und Leipzig zu verorten. Darüber hinaus zieht er immer wieder die Forschungsliteratur zu den Freimaurern in den USA und Frankreich heran, um seine Befunde in den internationalen Vergleich setzen. Hoffmann ist es auf diese Weise gelungen, eine Organisationsgeschichte der Freimaurerei in vergleichender Perspektive zu schreiben und vor diesem Hintergrund sowohl die soziale Praxis der bürgerlichen Logengeselligkeit zu entfalten als auch eine diskursanalytische Studie freimaurerisch-bürgerlichen Denkens zu liefern. Diese Leistung wird nicht im Geringsten dadurch geschmälert, dass sich der Autor auf einen ungewöhnlich reichhaltigen Fundus archivalischer Quellen stützen konnte. Ironischerweise haben nämlich gerade die Verschwörungstheorien, die sich seit jeher mit der Freimaurerei verbanden, dazu beigetragen, dass das Archivgut der deutschen Freimaurerbewegung flächendeckend erhalten blieb: Die Logenarchive wurden 1933 beschlagnahmt und zur erkennungsdienstlichen Verwertung verwahrt, um dann nach 1945 zu ähnlichen Zwecken teilweise in die Sowjetunion gebracht zu werden. Heute liegen im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem und im Zentralen Staatsarchiv in Moskau deshalb umfangreiche primäre Quellen-Bestände zur Geschichte der Freimauer in Deutschland vor 1933.

Der erste Teil der vorliegenden Studie besteht aus einem ausführlichen chronologisch angelegten Abriss, der zunächst knapp die Entwicklung der deutschen Freimaurerei im 18. und frühen 19. Jahrhundert referiert, um dann für die Zeit zwischen Vormärz und Reichsgründung bzw. für das Kaiserreich jeweils die Organisationsgeschichte, das soziale Profil, die politisch-weltanschauliche Ausrichtung und das Selbstverständnis der Freimaurer in der Auseinandersetzung mit Obrigkeitsstaat und Kirchen abzuhandeln.

Dabei treten im innerdeutschen Vergleich bemerkenswerte Unterschiede zu Tage: Während sich etwa in Sachsen Freimaurerei und konservativ-monarchischer Staat distanziert gegenüber standen, wurde die Politik der preußischen Großlogen infolge der Mitgliedschaft Wilhelms I. lange Zeit von einem engen Einvernehmen mit dem Königshaus und der staatlichen Bürokratie bestimmt, das erst nach der Thronbesteigung Wilhelms II. abkühlte. In den süddeutschen Staaten wiederum begrenzte die erbitterte Gegnerschaft der katholischen Kirche die Reichweite der Freimaurerei auf das nicht-katholische Bürgertum. Die lokale Logengesellschaft in den Städten war allerdings überall nach unten hin abgeschottet. Hohe Aufnahmegebühren und Jahresbeiträge sowie die Ballotage bei der Neuaufnahme von Mitgliedern sorgten dafür, dass das gehobene Bürgertum in den Logen unter sich blieb. Erst um die Jahrhundertwende öffnete sich die Freimaurerei in stärkerem Maße kleinbürgerlichen Schichten, die allerdings gewöhnlich in ihren neugegründeten Logen unter sich blieben.

Im Unterschied zu den neueren Studien zum Bürgertum in der Stadt, welche die Freimaurer kaum in den Blick nehmen, sieht Hoffmann die Logen auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als gesellschaftliche Kristallisationspunkte des städtischen Bürgertums. Die Freimaurerlogen boten einen geschützten Innenraum, wo sich Unternehmer und Kaufleute mit Akademikern und Beamten trafen, um die "Kunst der Geselligkeit" unter Gleichen als "gespielte Demokratie" einzuüben. In diesem Anspruch, das Streben nach Sozialität politisch-moralisch nutzbar zu machen, sieht Hoffmann die genuin politische Dimension der Logengeselligkeit, die sie von der bloßen Konvivialität des bürgerlichen Vereinswesens unterschied: Hier sollten durch das moralische Handeln der Bürger "Zivilität" und die Grundlagen einer "Bürgergesellschaft" gelegt werden. Dieses Leitmotiv der Gesellschaft der Freimaurer wiederum verweist auch auf den Kern des bürgerlichen Krisengefühls im späteren 19. Jahrhundert, das der Autor auf die Frage zuspitzt: "Bringt die moderne Gesellschaft ihre eigene moralische Grundlage, die in der individuellen Tugend der Bürger liegt, zum Verschwinden, indem sie die Bildung des Selbst, die Entfaltung menschlicher Subjektivität und Zivilität in der Vergesellschaftung mit anderen unmöglich macht?" (S. 203) Aus diesem Blickwinkel erscheint die bürgerliche Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts weniger als Angst vor der Moderne, vielmehr als erster Schritt in den "Sonderweg" oder als Flucht aus der Politik in die Moral. Im Gegenteil, die Intensität der Kritik an Materialismus und Massenkultur erkläre sich, so Hoffmann, erst, wenn in Rechnung gestellt werde, dass für die Freimaurer die moderne Gesellschaft auf Grundlagen ruhte, die in der individuellen Tugend und Zivilität ihrer Bürger lag. So gesehen, beziehe sich die bürgerlich-freimaurerische Krisendiagnose auf "das stets gefährdete Ziel einer Korrelation von Bürgertugend und Bürgergesellschaft – ein Erbteil von Aufklärung und Liberalismus und nicht ihr Gegenteil" (S. 281).

In ähnlicher Weise liest Hoffmann in seiner Geschichte der deutschen Freimaurerei zwischen 1840 und 1918 auch zwei andere Schlüsselbegriffe der Bürgertumsforschung neu, nämlich "Bildung" und "Nation". Die Bildung der eigenen Persönlichkeit im geselligen Austausch mit anderen stelle im Verständnis der Freimaurer ein Grundelement der Bürgergesellschaft dar und gehöre zu den Voraussetzungen zivilgesellschaftlichen Handelns. Hoffmann wendet sich gegen gängige Interpretationen, welche eine Abwendung des Bürgertums vom Ideal individueller Bildung, ihrer Veräußerlichung im bloßen sozialen Distinktionswert des Bildungspatentes seit der Mitte des 19. Jahrhunderts konstatieren. Das ältere Bildungsideal habe im Gegenteil um 1900 im deutschen Bürgertum eine Renaissance in einem "neuen Idealismus" erlebt, welcher mit der Förderung der "Persönlichkeit", des "Menschentums" und der "Bildung" des Einzelnen zivile Tugenden neu beleben wollte, um die Krise der Bürgergesellschaft, deren Symptome vorzugsweise unter Chiffre des "Materialismus" subsumiert wurden, zu überwinden. Dabei zeige der vergleichende Blick auf den englischsprachigen Raum, dass es verfehlt wäre, in dem Krisendiskurs und den Versuchen kultureller Reform nur einen bürgerlichen Antimodernismus zu sehen.

Schließlich setzt Hoffmann der einflussreichen historiographischen Lesart, das deutsche Bürgertum habe im Laufe des 19. Jahrhunderts im deutschen Bürgertum einen Übergang von humanistischen, moralischen Werten zu einer Überhöhung nationaler Identität vollzogen, eine eigene Sichtweise entgegen. Gerade das Beispiel der Logen zeige, wie nationale und menschheitliche Ideen aufeinander bezogen blieben. Einerseits enthalte der Begriff der "Nation" das Versprechen universaler menschlicher Gleichheit und sei einer egalitären Moral verpflichtet, deren höchster Wert das Individuum ist. Indem jedoch diese universale Gleichheit im modernen Nationalstaat ihre Erfüllung finden solle, setze sie ihre Allgemeinheit partikular, unterscheide sich von anderen Partikularitäten, die jeweils universalistisch aufgeladen, sich gegenseitig ausschlössen.. Die an die "Menschheit" gebundene Vorstellung gleichberechtigter Nationen drohe deshalb jederzeit umzuschlagen in eine "sittliche" Hierarchisierung und in universalistisches aufgeladenes Sendungsbewusstsein einer Nation. Die empathische Bezugnahme der deutschen Bürger zur Nation steht in Hoffmanns Argumentation zudem in einem engen Zusammenhang zur Verwirklichung bürgerlicher Gesellschaft. Der mittlerweile gängige Verweis auf die Konstruiertheit der Nation, sollte nämlich nicht den Blick darauf verstellen, dass die Nation in der Lage ist, die Individuen glauben zu lassen, sie seien Teil einer politischen Handlungseinheit, deren Überleben von der individuellen Tugend und Opferbereitschaft ihrer Bürger abhänge. In der Sprache des Nationalen nahmen sich daher Individuen als Teil der Gesellschaft wahr, begriffen ihre individuelle Tugend als Garant für die moralische Ordnung der Bürgergesellschaft wie der Menschheit schlechthin. Der Nationalismus der besitzenden und gebildeten Schichten des Kaiserreichs widerspreche also, so Hoffmanns Resümee, nicht ihrer "Bürgerlichkeit", beruhten doch die liberalen Ideen von "bürgerlicher Gesellschaft" und "Bürgerlichkeit", von "Nation" und "Menschheit" immer auch auf der Konstruktion eines "Außen", eines "Fremden" (S. 199).

Michael Schäfer, Bielefeld





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