ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Katharina von Kellenbach/Björn Krondorfer/Norbert Reck (Hrsg.), Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, 304 S., kart., 49,90 DM.

Kann man nach den Ereignissen von Auschwitz noch an einen Gott glauben, der den Massenmord nicht verhinderte? Muss nicht das christlich-Sinn-stiftende Leiden neu gedacht werden, angesichts des sinnentleerten jüdischen Leidens in den Konzentrationslagern? Ist es nach der Shoah überhaupt noch denkbar, Angehöriger einer Religion zu bleiben, die wie kaum eine andere auf eine antisemitische Tradition zurückblickt? Das sind Fragen, die Theologen hier zu Lande nach der deutschen Katastrophe immer wieder eindringlich gestellt und oft weniger klar beantwortet haben. Und es sind Fragen, die die Enkel der Täter und Opfer von damals, die so genannte Dritte Generation nach Auschwitz, auch heute noch vehement und bohrend stellen. Einig sind sich die Wissenschaftler dabei in der theologischen Erkenntnis: Im Land der Täter ist alle Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit, von Gott zu reden, zerbrochen. Welche Schlüsse die dritte Generation daraus zieht, welche Forderungen sie stellt und welche Neupositionierungen sie gegenüber den eigentlichen Begründern der "Theologie nach Auschwitz" vornimmt, ist in dem von Katharina von Kellenbach, Björn Krondorfer und Norbert Reck herausgegebenen Sammelband "Von Gott reden im Land der Täter" nachzulesen. Hier finden sich die "theologische(n) Stimmen der dritten Generation seit der Shoah" – und diese Stimmen sind zweifelnd, kritisch, fordernd und in ihrer Eindringlichkeit nicht zu überhören.

Zunächst aber orientieren sich die Stimmen der jungen Theologen an ihren Vorgängern, den Begründern der "Theologie nach Auschwitz". Diese so genannte zweite Generation, auf die das Wort Helmut Kohls von der "Gnade der späten Geburt" gerade noch zutrifft, war Ende der Zwanzigerjahre geboren, durchlebte das "Dritte Reich" als Kinder und Jugendliche, war aber bereits alt genug, um die Kriegsereignisse und die Reaktionen der Familie darauf reflektieren zu können. Bereits in der Anfangszeit ihrer theologischen Karriere, in den späten Sechzigerjahren, reifte in ihnen die Überzeugung, dass Theologie nach den Ereignissen zwischen 1933 und 1945 nicht mehr im alten Gewand betrieben werden könne. Vor allem aus den Siebzigerjahren datieren die Hauptwerke von Jürgen Moltmann, Johann Baptist Metz und Dorothee Sölle, die wohl bedeutendsten deutschen Theologen nach Auschwitz.

In den Mittelpunkt ihrer theologischen Forschungen rückte das Problem des Leidens. Die Theodizee, der Versuch, den Glauben an die Gerechtigkeit Gottes mit der Schlechtigkeit der Welt zu vereinigen, wurde von diesen Forschern als moralisch skandalöse Form der Auseinandersetzung mit Leiden verworfen. "Denn wer Theodizee-Erklärungen akzeptiert, findet immer noch etwas Gutes in der Vergangenheit und rechtfertigt somit die Grausamkeiten, die mit dem Namen Auschwitz symbolisiert werden", schreibt Sarah K. Pinnock in ihrer kritischen Analyse über ihre Vorgänger-Generation. Traditionell deutete der christliche Glaube die Kreuzigung Jesu als Modell des Leidens für Gott und aus Liebe zur Menschheit. Die Theologen nach Auschwitz weigern sich, im Leiden irgendeinen Sinn zu erblicken – und finden sich dabei in jüdischer Gesellschaft. Der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel schreibt: "Auch die Aussage, wir hätten für Gott gelitten, enthielte die Behauptung einer Rechtfertigung und versähe das Leiden, das Menschen über uns verhängt haben, mit religiöser Bedeutung ... und das wäre Verrat sowohl an der Antwort wie auch am Leiden selbst." Die zweite Generation verwarf auch das christliche Geschichtsverständnis vom bereits angebrochenen "Königreich des Vaters". Ganz im Gegenteil beweise Auschwitz das Auseinanderklaffen von Erlösungsverheißung und geschichtlichem Leiden. Vor allem Moltmann hat in seinen Werken immer wieder darauf hingewiesen, dass die von Gott verheißene messianische Zukunft für Christen wie für Juden noch nicht erreicht sei.

Die Verdienste der Theologen nach Auschwitz werden deutlich, wenn man den gesellschaftlichen Rahmen erkennt, innerhalb dessen sich die Forscher in den Siebzigerjahren bewegten. Die frühzeitig konstatierte "Unfähigkeit zu trauern" bezog sich bei den Nachkriegsdeutschen jedenfalls nicht auf die eigenen Landsleute, die Vertriebenen, die ausgebombten Zivilisten und Kriegsgefangenen. Während sich die Deutschen selbst als Opfer stilisierten, blieb Mitgefühl für die Opfer der Shoah und der NS-Verfolgungen nahezu aus. Hier setzte die Theologie nach Auschwitz erfolgreich an und sensibilisierte die deutsche Gesellschaft für die Leiden der Juden, während das traditionelle theologische Denken den Blick auf die Opfer versperrt hatte. Aber während die zweite Generation das Problem der Sinn stiftenden Vereinnahmung der Shoah durch die christliche Theologie erkannte, hielt sie weiterhin an einer hoffenden, heilenden oder erlösenden Botschaft des Christentums fest. Hier wird der fundamentale Unterschied zur dritten Generation erkennbar: Für sie ist ein unbeschwertes religiöses Leben nach Auschwitz nicht mehr vorstellbar, da sie auf Grund ihrer Geburt nach dem Krieg das unbeschwerte "vorher" gar nicht mehr kennen gelernt haben.

Dieser vollständige Bruch mit einer unbeschwerten Religiosität ist kennzeichnend für die Textbeiträge der dritten Generation. In "Von Gott reden im Land der Täter" fordern sie ein neu zu bestimmendes Verhältnis von Juden und Christen, die Aufarbeitung des christlichen Antijudaismus und eine exakte Täter-Opfer-Differenzierung (Taubald). Sie fragen nach dem "Gott der Täter" (Reck), dem Gott der Opfer und dem Gott der Mitläufer: War es immer der gleiche, eine Gott? Sie kritisieren die theologischen Reden von Schuld und Vergebung, die an Stelle individueller Schuld die Schuldhaftigkeit aller setzten – und damit einzelne Täter entschuldeten. "Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer", steht im Römerbrief und christliche Theologen zogen den Schluss: "Wo alle schuldig sind, kann niemand gerecht urteilen" (von Kellenbach) außer Gott. Der aber war nicht Richter in Nürnberg, sondern es waren die Alliierten, deren Kriegsverbrecherprozess von den Kirchen übrigens in erstaunlicher Einigkeit abgelehnt wurde.

Die dritte Generation will die Tat des Einzelnen erkennbar machen, um individuelle Schuld überhaupt sühnen zu können. Sie will die Geschichte der Täter in den Blick nehmen, die Subjektverbergung durch den "Abschied von familienbiografischer Unschuld" (Krondorfer) durchbrechen, um eine Anonymisierung der Täter und der Tat hinter gesellschaftlich-politischen Strukturen zu verhindern. Sie will zugleich die Kontinuitäten aufdecken, die es im christlichen Denken nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz gegeben hat. Sie fordert, die Berichte der Überlebenden als Zeugnisse zu begreifen und zu lesen (Mensink), um einen schärferen Blick auf die Täter zu gewinnen. Zugleich soll sich die heutige Generation in eine neue Beziehung zu den Zeugen der Geschichte setzen und unbewusste Identifizierungen mit den Opfern vermeiden. Denn erst die Post-Shoah-Generation kann den Erinnerungen der Täter und Opfer von damals mit neuer Offenheit begegnen.

Letztlich verbindet die 17 Autoren des Bandes, die allesamt zwischen 1954 und 1971, der überwiegende Teil aber in den Sechzigerjahren, geboren wurde, der Wunsch, Auschwitz nicht zur Metapher verkommen zu lassen. Die Problematik der zahlreichen qualitativ unterschiedlichen Beiträge liegt genau darin begründet und sie wird von einem der Autoren in Worte gefasst: "Die Präsenz von Auschwitz steigt; aber sie ist ... keine reale Präsenz ... ; sie schärft den Blick nicht, sondern lässt ihn an einer abweisenden, opaken Oberfläche abgleiten" (Taubald). Auch für dieses Buch, das für den theologischen Laien nicht immer leicht zu verstehen ist und vor allem aus diesem Grund leider kaum über den überschaubaren Kreis der Interessierten hinaus Beachtung finden wird, gilt die letztlich unbefriedigende Feststellung von Elie Wiesel: "Auschwitz bleibt eine Frage ohne Antwort. Das Einzige was wir tun können, ist Fragen zu stellen und uns zu wundern."

Christian Sonntag, Hamburg





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