ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2001, 598 S., brosch., 137 DM.

Die hier anzuzeigende Veröffentlichung ist als Dissertation an der Humboldt-Universität in Berlin in zwei Forschungszusammenhängen entstanden: Der Verfasser nahm am Graduiertenkolleg "Gesellschaftsvergleich in historischer, soziologischer und ethnologischer Perspektive" und am Forschungsprojekt "Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Modernisierungsprozess: Schweden und Deutschland" teil. Anstoß zu dieser Studie gab die aus wissenschaftlichen Erhebungen und Umfragen gewonnene Erkenntnis, dass der Begriff "Volksgemeinschaft" in der Durchschnittsbevölkerung kein mit Assoziationen an den Nationalsozialismus negativ aufgeladenes Reizwort darstellt, wie es Wissenschaftler aus ihren beruflichen Kontexten heraus unterstellen würden. Gerade in der Geschichtswissenschaft ist der Begriff Volksgemeinschaft ein Modewort der Nationalsozialismusforschung geworden. Von dieser Beobachtung ausgehend lässt sich fragen, ob der Begriff der Volksgemeinschaft geeignet ist, das Typische am Nationalsozialismus hervorzukehren.

Das so genannte Schwedische Modell ist seit den 1930er-Jahren das des Volksheims (folkhem), das für eine Verknüpfung von Nation und Wohlfahrtsstaat steht. Seine Widersprüchlichkeiten sind Gegenstand der aktuellen Diskussion in Schweden. Die verwandten Begriffe Volksgemeinschaft und Volksheim sind bis heute nicht aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Der Autor kann sich auf keine begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zum Begriffspaar stützen. Er geht so vor, dass er die doppelte Konstruktion von Volksgemeinschaft in Deutschland und Volksheim in Schweden durch politische Rhetorik und politische Maßnahmen in den 1930er- und 1940er-Jahren gegenüberstellt. Dabei liegt der zeitliche Schwerpunkt der Gegenüberstellung auf den 1930er- und 1940er-Jahren. Ausläufer bis in die aktuelle Diskussionen werden ebenfalls berücksichtigt. Das Quellenmaterial besteht im begriffgeschichtlichen Teil aus politischen und wissenschaftlichen Debattenbeiträgen. Für den Teil, der die politischen Maßnahmen beschreibt, greift der Autor vermehrt auf einschlägige Sekundärliteratur zurück. Er untermauert seine Ausführungen mit zahlreichen Tabellen und Abbildungen von politischen Plakaten oder Illustrationen aus zeitgenössischen Veröffentlichungen.

Im ersten Hauptteil, der Begriffsgeschichte, stellt der Autor zunächst im Deutschen, anschließend im Schwedischen, die Geschichte der Begriffe "Volk", "Gemeinschaft", "Volksgemeinschaft", "Heim" und "Volksheim" vor. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Begriffe Volksgemeinschaft und Volksheim während der 1930er- und 1940er-Jahren geprägt wurden. Obgleich unterschiedliche Worte in unterschiedlichen Sprachen, lassen sich beide Begriffe auf einen gemeinsamen latenten Bedeutungskern zurückführen. Das Signifikat, für das beide stehen, ist das der Verankerung des Einzelnen im Kollektiv einer Nation, wobei die sozialen Beziehungen auf nationalstaatlicher Ebene den familiären Beziehungen darin ähnlich sind, dass sie dem einzelnen Geborgenheit suggerieren.

Im zweiten Hauptteil der Studie arbeitet der Verfasser an konkreten Beispielen heraus, dass die Nationalsozialisten die Volksgemeinschaft als eine konkrete, von ihnen vorgegebene Ordnung verstanden haben, während die schwedischen Sozialdemokraten den Begriff des Volksheims als "provisorische Utopie", die verhandelbar und am Wohle des Einzelnen orientiert war, sahen. Es wird deutlich, dass Volksgemeinschaft und Volksheim einander von der Bedeutungsfülle sehr nahe stehen und dass erst ihre Umsetzung in praktische Politik die Differenzen zu Tage fördert. Es sind vor allem die Bereiche Erziehung sowie Familien- und Sozialpolitik, die sich für eine empirische Überprüfung der Überführung der Begriffe in konkreten politischen Kontexten anbieten. Aus arbeitsökonomischen Gründen beschränkt sich der Autor auf die Jugendarbeit und auf die Sozialpolitik.

Die Kapitel zur Hitler-Jugend, zum Arbeitsdienst, zur Sozial- und Bevölkerungspolitik, zur Sozialversicherung und zum Winterhilfswerk im NS-Staat referieren bis in die Einzelheiten die Geschichte der sozialen Institutionen. Hier wäre die Konzentration auf die Momente, die den direkten Bezug zur Volksgemeinschaft belegen, ausreichend gewesen. Auf diese Weise hätte der Autor weitere Politikbereiche, in denen Volksgemeinschaft praktisch gestaltet wurde, berücksichtigen können, zum Beispiel die Wohnungspolitik. Da der deutsche Leser mit der schwedischen Geschichte in der Regel nicht so vertraut ist wie mit der des Nationalsozialismus, ist diese Ausführlichkeit der Darstellung in dem Teil, der die schwedische Jugendarbeit und Sozialpolitik beschreibt, eher zu vertreten.

Die Analyse der Begriffe in der politischen Praxis bestätigt das Ergebnis des begriffsgeschichtlichen Teils der Studie: Kennzeichnend für die nationalsozialistische Begriffsprägung der Volksgemeinschaft war ihre Institutionalisierung in einer Vielzahl gleichgeschalteter Organisationen und ihre Verankerung im geltenden Recht. Das Konzept des Volksheims im Schweden der 1930er- und 1940er-Jahre war dagegen eine vage Utopie, eine Art Leitbild für den Wohlfahrtsstaat sozialdemokratischer Prägung. Pointiert gesagt, war Volksgemeinschaft ein eher destruktiver, Volksheim ein eher konstruktiver Begriff. In seiner Schlussbetrachtung warnt der Verfasser allerdings vor der in der aktuellen Diskussion häufig anzutreffenden Pauschalisierung der Begriffe, die als Etiketten für den NS-Staat oder für den schwedischen Wohlfahrtsstaat missbraucht werden. Gegen diese stilisierte Verwendung der Begriffe spricht zum Beispiel, dass selbst der schwedische Gemeinschaftsgedanke des Volksheims nicht vor Ausgrenzungen schützte: Das schwedische Sterilisierungsgesetz von 1934 ist ein solches Beispiel von Ausgrenzung.

Elke Hauschildt, Koblenz





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