ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ingrid Richter, Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene (=Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, Band 88), Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2001, 572 S., geb., 98 DM.

Das katholische Milieu und der politische Katholizismus können nicht, wie bisher in der Literatur häufig angenommen, als ein "anti-eugenisches Bollwerk" verstanden werden (S.21). So lautet die Hauptthese der Dissertation Ingrid Richters im Fach katholische Theologie, die für ihr Thema Pionierarbeit leistet. Der Katholizismus stand hinsichtlich der Eugenik zwischen der überkommenen, mit der katholischen Naturrechtslehre und ihrem Menschenbild fundierten Ablehnung des materialistischen Darwinismus auf der einen Seite und einem Modernisierungsdruck auf der anderen Seite. In der Weimarer Republik verbreitete sich die eugenische Debatte auf den für den Weimarer Wohlfahrtsstaat besonders bedeutsamen Feldern der Sozial-, Gesundheits- und Kriminalpolitik immer stärker. Eine katholische Elite, vor allem aus dem Sozialkatholizismus, den katholischen Frauenorganisationen, dem linken Flügels des Zentrums, aber auch modernistische Theologen, Intellektuelle und Ärzte verfochten zunehmend eugenische Positionen. Die ursprünglich bevorzugten Maßnahmen positiver Eugenik (z.B. eugenisches Kindergeld) erwiesen sich bald als nicht finanzierbar, so dass nun zunehmend auch Maßnahmen negativer Eugenik diskutiert wurden. Die überlieferten theologischen Grenzen des Naturrechts erwiesen sich zunächst als nach wie vor verbindlich: "Nur diejenigen Maßnahmen erschienen Katholiken diskussionswürdig, die die körperliche Integrität der Person nicht antasteten" (S.511), also der Austausch von Gesundheitszeugnissen vor der Ehe, die Etablierung von eugenischen Eheberatungsstellen und die eugenisch indizierte Asylierung.

Mit dem letztendlichen Scheitern dieser Ansätze und in Folge der Weltwirtschaftskrise mit ihren sozialen und fiskalischen Verwerfungen kam es jedoch zu einer Entgrenzung der Zentrums-Eugenik. Das berüchtigte Gesetz zur freiwilligen Sterilisation wurde 1932 in Preußen unter der Ägide der vom Zentrum dominierten Wohlfahrtsbürokratie entworfen. Das verstieß eklatant gegen die katholische Tradition im allgemeinen und gegen das von Papst Pius XI. in seiner Ehe-Enzyklika Casti connubii (1930) ausgesprochene, naturrechtlich begründete Verbot jeglicher eugenischer Sterilisation im besonderen. Erst die Ausschaltung der Zentrums-Eugenik nach dem 30. Januar 1933 und der Außendruck durch das NS-Gesetz zur Zwangssterilisation drängten die katholische Eugenik auf diese päpstliche Linie zurück.

Der zweite Teil zum Verhältnis von Katholizismus und NS-Rassenhygiene im "Dritten Reich" beruht auf umfangreichen Quellenrecherchen, die vor allem die Region Westfalen betreffen. Ingrid Richter skizziert einleitend den Paradigmenwechsel von der Weimarer Eugenik zur NS-Rassenhygiene, den sie nicht als einen fließenden Übergang, sondern als einschneidende Zäsur auffasst. Anschließend stellt sie die Auseinandersetzung des katholischen Milieus mit der NS-Zwangssterilisierung dar, um dann in einer Art kürzerem Ausblick das Verhältnis von katholischer Moraltheologie zur NS-"Euthanasie" schlaglichtartig zu beleuchten.

Mit dem Überschreiten der Grenze von der Freiwilligkeit zum Zwang durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933 wurde nicht nur der Umschlag von der moderateren Weimarer Eugenik zur NS-Rassenhygiene deutlich, sondern hier lag für die Hauptströmungen des Katholizismus auch die Grenze dessen, was er zu akzeptieren und mitzutragen bereit war. Die Zentrums-Eugenik wurde vom Nationalsozialismus aus dem öffentlichen Leben verdrängt, das Angebot des Katholizismus auf dem Felde eugenischer Erziehung und Schulung mit den neuen Machthabern zusammenzuarbeiten wurde vom NS-Staat zurückgewiesen, da er keine Konkurrenz duldete. Wer wie der katholische Theologe Joseph Mayer das NS-Zwangssterilisierungsgesetz verteidigte, wurde von katholischen Autoritäten verwarnt. Der katholische Eugenik-Diskurs verebbte infolgedessen nach und nach.

Mit dem GzVeN stellte sich für Katholiken, welche im Sozial- und Gesundheitswesen arbeiteten, die drängende Frage, wie sie sich konkret verhalten sollten, wenn einerseits der Staat sie zur Mitwirkung an der Zwangssterilisierung per Gesetz verpflichtete, auf der anderen Seite die katholische Kirche diesen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verwarf. Gehorchten sie dem Staat, so verloren sie ihr Seelenheil, folgten sie der Kirche, so riskierten sie es, ihre Arbeitsstelle zu verlieren. Eine breite Verweigerung jeglicher Mitwirkung etwa dergestalt, dass die katholischen Anstalten ihre Patienten nicht meldeten, katholische Amtsärzte keine entsprechenden Untersuchungen durchführten und katholische Krankenschwestern bei der Operation nicht assistierten, hätte voraussichtlich bedeutet, dass überzeugte Katholik aus dem Sozial- und Gesundheitswesen verdrängt worden wären. Wie in einzelnen Fällen auch tatsächlich geschehen, wären andere an ihre Stelle getreten, die weniger Skrupel gegenüber der NS-Rassenhygiene aufwiesen. Das war eine leitende Perspektive der katholischen Autoritäten, die dieses Risiko nicht eingehen wollten.

Die Autorin arbeitet das Dilemma der Gläubigen anhand zahlreicher Briefwechsel zwischen Fürsorgerinnen oder Krankenschwestern und ihren Vikariaten sehr plastisch heraus und zeigt an den Antworten, dass die katholische Kirche ihre Gläubigen weitgehend mit ihrer Gewissensnot allein ließ. Am Ende stand ein moralischer Kompromiss: Die aktive Beteiligung sollte von den Gläubigen vermieden werden, passive Beteiligung wurde gestattet. Diese eigentümliche Trennung führte dazu, dass es als mit dem Glauben vereinbar galt, einen Menschen, der für die Zwangssterilisierung in Frage kommen konnte, den entsprechenden Instanzen namentlich zu benennen, nicht aber den eigentlichen Antrag auf Unfruchtbarmachung zu stellen.

Das Vorgehen der Autorin im ersten, die Weimarer Republik betreffenden Teil, ist das jener sorgfältigen Zeitgeschichtsschreibung, welche quellenorientiert politische Entscheidungsverläufe präzise nachzeichnet, aber ihre Einbindung in größere Linien vernachlässigt. Dadurch fehlt es mancherorts an Orientierung und Ordnung im Meer der Fakten und Verläufe. So ist es bedauerlich, dass die Autorin nicht zunächst einleitend das Verhältnis von katholischer Naturrechtslehre zum Darwinismus als der Grundlagen"wissenschaft" der Eugenik näher bestimmt. Lesern und Leserinnen, die weniger mit dem katholischen Glauben und seiner naturrechtlichen Ethik vertraut sind, wird so der Einstieg in die Thematik erschwert. Der erste Teil der Studie konzentriert sich auf die Politik des Zentrums in Preußen. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits ist das Land Preußen für die eugenische Politik in der Weimarer Republik wichtig genug, um eine solche Eingrenzung zu rechtfertigten. Auf der anderen Seite wird nicht immer deutlich, ob der preußische Zweig in seiner Haltung zur Eugenik repräsentativ für das Zentrum oder gar für das katholische Milieu in der Weimarer Republik war. Ebenso wird die Abkehr des preußischen Zentrums von der vom Papst vorgegebenen Ablehnung jeglicher eugenischer Sterilisierung als solche nicht näher behandelt. Wie verhielt es sich grundsätzlich und in diesem besonderen Fall mit der Bindung katholischer Politik an päpstliche Verlautbarungen? Wie rechtfertigten die Entscheidungsträger diesen Bruch mit dem Gehorsam vor sich, der Kirche und der Öffentlichkeit? Der zweite Teil bietet tiefe Einblicke in das Verhältnis von katholischer Kirche zum NS-Staat, die zur Pflichtlektüre für jeden und jede gehören, die sich für das Widerstandpotenzial von Kirchen im "Dritten Reich" interessieren, auch wenn diese Frage einer grundsätzlichen Erörterung bedurft hätte. Aufschlussreich ist die Studie jedoch gerade dort, wo sich konkret und vor Ort die Frage nach der Möglichkeit und dem Preis moralischen Handelns im Nationalsozialismus stellte.

Erik Eichholz, Hamburg





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