ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Johannes Vossen, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900 bis 1950 (=Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Band 56), Klartext Verlag, Essen 2001, 546 S., geb., 64 DM.

Johannes Vossen betritt mit seiner geschichtswissenschaftlichen Dissertation Neuland. Am Beispiel der Region Westfalen erforscht der Autor erstmals ebenso quellenorientiert wie theoriegeleitet mit einer vielfältigen Palette methodischer Zugriffe die Rolle der kommunalen und staatlichen Gesundheitsämter für die "Erb- und Rassenpflege" im Nationalsozialismus, wobei er ausführlich die Vorgeschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert und in der Weimarer Republik einbezieht. Dem Verfasser geht es dabei um die Ambivalenz der Moderne, um die Doppeldeutigkeit des Fortschritts, der sich zwischen den Polen "Freiheit und Zwang, Humanität und Barbarei" (S.18) bewegt. Dieses Leitthema gliedert sich dann in die Fragen: (1.) Wie verlief der Prozess einer Verwissenschaftlichung der Gesundheitsfürsorge zwischen den Polen Sozialhygiene und Eugenik/Rassenhygiene, (2.) welche Rolle spielte der Prozess der Bürokratisierung und (3.) welche Handlungsspielräume besaßen Individuen in der Staatsadministration?

Der erste Teil widmet sich der Vorgeschichte des eigentlichen Themas. Sowohl die Entstehung von Eugenik/Rassenhygiene und Sozialhygiene als auch des öffentlichen Gesundheitswesens seit Ende des 19. Jahrhunderts werden fassettenreich dargestellt. Die konkreten Beispiele, an denen die Entwicklung nachgezeichnet wird, sind gut gewählt: Säuglingsfürsorge, Tuberkulosefürsorge und die offene Geisteskrankenfürsorge. Aus den Quellen heraus analysiert der Autor, wo und wie in diese Bereiche eugenisches bzw. rassenhygienisches Denken eingedrungen ist.

Der zweite Teil, d.h. der eigentliche Hauptteil, widmet sich der Rolle der Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Nach einigen Machtkämpfen im polykratischen Gefüge der nationalsozialistischen Herrschaft wurden 1935 die bereits seit der Weimarer Republik bestehenden kommunalen Gesundheitsämter unter staatliche Kontrolle genommen oder als staatliche Gesundheitsämter reorganisiert bzw. gerade im ländlichen Raum neu gegründet. Die Gesundheitsämter waren um die Amtsärzte herum aufgebaut (erst mit dem Mangel an Männern im Verlauf des Krieges, auch -ärztinnen). Sie waren zum einen für die Gesundheitsfürsorge zuständig und bildeten zum anderen, untrennbar damit verknüpft, Zentren der "Erb- und Rassenpflege" im Nationalsozialismus: Ihnen oblag zu weiten Teilen die praktische Umsetzung der Zwangssterilisation, die rassenhygienische Überprüfung der "Ehetauglichkeit", die Prüfung der Erbgesundheit zur Zuteilung eines Ehestandsdarlehens oder des Mutterkreuzes und sie waren auch an der Mordpolitik gegen Kranke und Behinderte beteiligt. Es wird hier deutlich, wie umfassend und tief greifend die nationalsozialistische Gesundheitspolitik mit ihrem institutionalisierten Rassismus in den Alltag der Bevölkerung eingriff, aber auch wo die Grenzen dessen lagen: in dem konkurrierenden Nebeneinander verschiedener Institutionen, in der für eine allumfassende erbbiologische Erfassung der Bevölkerung zu geringen Finanz- und Personalausstattung, die sich im Verlauf des Zweiten Weltkriegs noch weiter verringerte.

Der dritte Teil behandelt Neuanfang und Kontinuität nach 1945, konzentriert sich dabei auf die Entnazifizierung und Reintegration von politisch belasteten Angehörigen des öffentlichen Gesundheitsdienstes sowie auf die ausgebliebene Wiedergutmachung für Menschen, die der Zwangssterilisierung unterlagen. Dieses Kapitel fällt leider etwas knapp aus, ein genauerer Blick auf eventuell fortbestehende oder verschwindende Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster, also auf Kontinuität und Diskontinuität in der Mentalität des öffentlichen Gesundheitswesens fehlt.

Was sind nun die wesentlichen Ergebnisse der Studie? Aus macht- und bevölkerungspolitischen Gründen bildete der Ausbau von Wohlfahrt und Gesundheitsfürsorge für die Bevölkerung ein Grundmuster der Zeit zwischen 1895 und 1945. Diese kontinuierliche Ausweitung der gesundheitlichen und bevölkerungspolitischen Fürsorgetätigkeit führte einerseits zu einer Förderung der Massengesundheit, andererseits zu einem "Ausschluss bestimmter, besonders benachteiligter bzw. bedürftiger Personengruppen, der im Fürsorgemodell bereits angelegt war" (S.486). Darin zeigt sich die Ambivalenz der Moderne mit ihren Fortschritten auf dem Sektor des öffentlichen Gesundheitswesens.

Die Gesundheitsfürsorge der Weimarer Republik war zwischen den beiden "Leitwissenschaften" des öffentlichen Gesundheitswesens, Eugenik/Rassenhygiene und Sozialhygiene "hin- und hergerissen, idealistische Impulse rangen mit utilitaristischen Sichtweisen" (S.69). Handlungsrelevanz für den immer breiter ausgebauten Sektor kommunaler Gesundheitsfürsorge erlangte in der Weimarer Republik jedoch allein die Sozialhygiene. Diese war primär auf Inklusion ausgerichtet, d.h. immer weitere Kreise der Bevölkerung sollten in die präventiven hygienischen und sozialreformerischen Strategien zur Gesundheitsförderung bzw. Krankheitsverhütung einbezogen werden, sie wies aber auch Affinitäten zu eugenischem Denken auf.

Im Nationalsozialismus wurde die auf Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen ausgerichtete radikal völkische Variante der Rassenhygiene zum Menschen verachtenden Prinzip des öffentlichen Gesundheitswesens. Da der Wohlfahrtsstaat in seinen Grundzügen nicht nur erhalten blieb, sondern noch weiter ausgebaut wurde, profitierte der überwiegende Teil der Bevölkerung allerdings von der Etablierung des staatlichen Gesundheitswesens nach 1935. Das öffentliche Gesundheitswesen bildete zugleich eine bedeutende Instanz zur Erfassung so genannter "Erbkranker" und zur Selektion zwischen "Volksgenossen" und "Gemeinschaftsfremden", "wertvollen" und "minderwertigen" Menschen. Beide Momente waren, wie Johannes Vossen eindringlich vermittelt, untrennbar miteinander verzahnt.

In sorgfältigen qualitativen und quantitativen Untersuchungen der Sterilisationspraxis verschiedener westfälischer Gesundheitsämter (und als Vergleichsfolie im Regierungsbezirk Düsseldorf, Magdeburg, Osnabrück und im "Mustergau" Thüringen) kann der Verfasser zeigen, dass den Angehörigen des öffentlichen Gesundheitswesens, vor allem den Amtsärzten erhebliche individuelle Spielräume offen standen. So wurde in katholischen Regionen weniger sterilisiert als in protestantisch geprägten. Große kommunale Gesundheitsämter mit einer in die Weimarer Republik zurückreichenden sozialhygienischen Tradition stellten ebenfalls weniger Sterilisationsanträge als staatliche Gesundheitsämter. Beim Untersuchen von potenziellen Opfern der Zwangssterilisation war es den durchführenden Amtsärzten möglich, durch "Umdefinierungen, Ausschöpfen von Handlungsspielräumen und sorgfältige Diagnosen" (S.486) die Zahl der Opfer in ihren Amtsbezirken niedrig zu halten. Allerdings konnten zu geringe Sterilisationsquoten zu disziplinarischen Konsequenzen führen.

Die Studie unterstreicht nachdrücklich, dass keine "schiefe Ebene" zwischen den eugenischen Diskursen und Maßnahmen der Weimarer Republik einerseits und der rassenpolitischen Herrschaftspraxis im Nationalsozialismus lag, auf welcher es kein Halten gibt, wenn sie erst einmal betreten ist. Die deterministische Meinung der älteren Forschung mit ihrer viel benutzten Metapher von der "schiefen Ebene" ist im Verlauf der 90er-Jahre immer mehr in den Hintergrund getreten. Das seitdem fast konsensuale Paradigma von der Ambivalenz der Moderne, von den gegenläufigen Potenzialen des Fortschritts wird in der Dissertation fundiert, konkretisiert und veranschaulicht.

Erik Eichholz, Hamburg





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