ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Clemens Wischermann, Stefan Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte: Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung. (=Studien zur Geschichte des Alltags, Band 17), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2000, 345 S., kart., 148 DM.

Körpergeschichte ist, wie der Untertitel des Sammelbandes andeutet, weniger die Geschichte der konkreten materiellen Körperlichkeit, sondern vielmehr die Geschichte der Körpervorstellungen. Dabei kann es sich um die Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers, um die Wahrnehmung anderer menschlicher Körper, um Kollektivkörper oder um Verkörperungen handeln. Die Geschichte der Institutionalisierung, der Weitergabe und des Wandels von Körpervorstellungen ist an sich kein Gegenstand historischer Forschung. Lediglich die Frauen- und die Geschlechtergeschichte weisen traditionell Berührungspunkte zur Körpergeschichte auf. Entscheidende Anstöße kommen aus der Historischen Verhaltensforschung, der Historischen Anthropologie und der Psychologie. Die aktuelle körpergeschichtliche Debatte ist von der Auseinandersetzung um Diskurs und Erfahrung geprägt. Die Herausgeber wollen dies mit ihrer Auswahl der Beiträge dokumentieren.

Die im ersten Teil des Bandes unter der Überschrift "Kategorien und Konzepte" versammelten Aufsätze setzen sich mit erkenntnistheoretischen Fragen von Körpergeschichte auseinander. Mit den zentralen Themen von Körpergeschichte, die Geschichte des Wandels von Körpervorstellungen und die Geschichte der Schmerzwahrnehmung, befassen sich die Beiträge des zweiten Teils unter der Rubrik "Institutionalisierungen". Wie sich Körperideale und –normierungen im Laufe der Zeiten verändern, stellen Beiträge über geschlechtsspezifische Körper- und Modeideale im 19. und 20. Jahrhundert, über den Männerkörper in der Werbung vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart oder über die Bewertungen von Schlankheit und Körperfülle in den letzten 200 Jahren dar um nur ein paar Beispiele zu benennen. Der Aufsatz von Kerstin Rehwinkel über konkurrierende Körperkonzepte in der Debatte um den Tod bei der Hinrichtung durch die Guillotine im ausgehenden 18. Jahrhundert greift ein medizingeschichtliches Thema auf. Kernfrage der von Medizinern beherrschten Diskussion war, ob es zwischen dem Auftreffen des Fallbeils im Genick und dem Todeseintritt eine Zeitspanne von wenigen Minuten gebe, in der der Hingerichtete entsetzliche Schmerzen erleide, ehe seine Empfindungen mit dem Tod erlöschen. Als Belege ihrer Ansichten dienten den Kontrahenten äußerlich beobachtbare Regungen in Gesicht und Körper des Hingerichteten, die sie jeweils anders interpretierten. Das Beispiel der Anwendung des diskursanalytischen Ansatzes auf ein medizinhistorisches Thema zeigt eindrucksvoll, wie ein- und dieselbe Körperregung je nach Wahrnehmung des Betrachters anders gedeutet und instrumentalisiert werden kann.

Neben diesen Thematisierungen des individuellen Körpers beschäftigen sich einige Aufsätze mit Kollektivkörpern und Verkörperungen. Katja Mentzel-Mattern untersucht die Abtreibungsdiskussion der Weimarer Republik unter diskursanalytischem Aspekt. In dieser Debatte prallten Interessen des Kollektivkörpers – des deutschen Volkes – mit den individuellen Interessen der Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper zusammen.

Alle Autoren wählen einen diskursanalytischen Zugang zu ihren Themen. Das Thema verschwimmt nicht selten hinter der Diskussion von Luhmannschen oder Foucault'schen Erklärungsmustern. Die Autoren stützen sich nicht auf archivalische Quellen, sondern wenn überhaupt, auf gedruckte Quellen wie zeitgenössische Traktate, aber auch auf bildliche oder textliche Darstellungen aus der Werbung oder aus dem Film. Sofern sich ein Aufsatz auf Bildquellen stützt und diese unverzichtbar für das Textverständnis sind, werden sie in Schwarz-Weiß-Abbildungen in den Beitrag integriert.

Leider steht diese großzügige, dem Leser entgegenkommende Illustration in krassem Gegensatz zum Grad der Allgemeinverständlichkeit des Sammelbandes. Es ist nicht nur die exzessive, oft unnötige Verwendung von Fremdwörtern, sondern auch die Schöpfung neuer, sperriger Ausdrücke, die die Lektüre der vorliegenden Aufsätze so mühsam macht, etwa wenn von der "Eigenkörperlichkeit" des Beobachters oder von der "Aufeinanderverwiesenheit" von Körpererfahrungen die Rede ist, so in der Einleitung von Clemens Wischermann auf S. 23. Stilistisch unterbrechen viele Zusätze in Klammern den Lesefluss. Als Zeichen besonderer Arroganz ist es zu werten, wenn französische Zitate nicht übersetzt werden, wie im Beitrag von Kerstin Rehwinkel über den Tod durch die Guillotine. Dieser Sammelband kommt aus dem Elfenbeinturm und richtet sich ausschließlich an Bewohner desselben. Dies ist insofern bedauerlich, als die Herausgeber eine Chance vertun, eine noch junge Richtung der Kulturgeschichte, die Körpergeschichte, innerhalb der Geschichtswissenschaft zu etablieren und jenseits geschichtswissenschaftlicher Grenzen das Interesse an Körpergeschichte zu wecken.

Elke Hauschildt, Koblenz





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