ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 2000, 416 S., brosch., 68 DM.

Die "Geschichtlichkeit der Gegenwart" für die soziale Frage zu verdeutlichen, die Verwundbarkeit der Besitz- und Arbeitslosen sowie den Umgang mit ihnen in der Vergangenheit Europas zum Verständnis der aktuellen sozialen Problemlagen heranzuziehen, ist das Anliegen Castels. Durch alle Epochen zieht sich die auch heute noch wichtige Unterscheidung zwischen den Notleidenden, die durch Alter oder Krankheit einem Erwerb nicht nachgehen können, und den Arbeitslosen, den "Überzähligen", die arbeiten können, aber keine Arbeit finden. Castel unterscheidet daher zwischen einer "Unterstützungsproblematik", die zur Normalität der menschlichen Gesellschaft gehört und einer "Arbeitsproblematik", die dissoziierend wirkt und tendenziell die gesellschaftliche Ordnung infrage stellt.

"Von der Vormundschaft zum Vertrag" lautet der erste von zwei Teilen des Buches, der die Zeit vom Mittelalter bis zum aufkommenden Liberalismus behandelt. Unmündigkeit, Zwangsarbeit, der ausschließende Mechanismus des Zunftwesens sind die Merkmale der vorliberalen Lohnabhängigkeit. Mit der "massenhaften Verwundbarkeit" zum Ende des 17. Jahrhunderts wird die Vorstellung illusorisch, die soziale Frage auf die beiden Gruppen der bedürftigen Kranken und Alten einerseits und einer kleinen Zahl von Vagabunden und arbeitsfähigen Bettlern andererseits, die durch Repressionen zur Arbeit gezwungen werden sollen, begrenzen zu können. Nicht das massenhafte Auftreten von Armut ist das Neue an der Situation, sondern die Gefährdung, das ausgeliefert-Sein an das Risiko von Arbeitslosigkeit und Statusverlust für die besitzlose Bevölkerung überhaupt.

Der zweite Teil der Studie "Vom Kontrakt zum Status" skizziert die Situation des individuellen Vertragsverhältnisses auf der Grundlage der befreiten Arbeit. Die Freiheit der Arbeit, die mit dem Verlust an Sesshaftigkeit, an sozialer Primärsicherung, an Gewissheit der persönlichen Stellung, der kollektiven Identität des Standes einherging, ist die erste Etappe der Zweischneidigkeit, die der Autor in der Entwicklung zur Individualisierung erblickt. Beachtenswert auch für die aktuelle Problematisierung der sozialen Frage sind die Hinweise Castels, dass nicht so sehr die materielle Dimension der Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse, sondern erst das Aufbrechen herkömmlicher Sozialstrukturen und Primärbeziehungen die "Überzähligen" hervorbringt. Die klassische These, dass es die Veränderungen der Produktionsprozesse sind, die Entkopplung und Verelendung hervorrufen, erfährt hier eine interessante Relativierung, die allerdings von Castel nicht vorangetrieben wird.

Die "Kontraktualisierung des Arbeitsverhältnisses" zusammen mit der Industrialisierung bringt den Pauperismus hervor. Mit der Französischen Revolution gewinnt die soziale Frage, die bislang eine moralische Dimension der Wohltätigkeit war, den Rang einer rechtlichen, mithin politischen Frage. Lange noch gelingt es aber, das soziale Elend im Sinne des überkommenen Verständnisses von Patronage und karitativer Wohlfahrt zu behandeln. Der zentrale Schritt, die "Willkür des Almosens durch die Gewissheit eines Rechtsanspruchs" zu ersetzen (Jean Jaurès), ist nach Castel die Erkämpfung eines anerkannten Status. Um den Begriff des Status herum entwickelt Castel seine Ansicht von der erfolgreichen Lösung der sozialen Frage. Das Solidaritätsprinzip der Sozialversicherungen lässt die Kollektivität der Interessenslage zum Vorschein treten. Und die Berücksichtigung der "kollektiven Dimension bewirkt den Übergang vom Kontrakt des Arbeitsverhältnisses zum Status des Lohnabhängigen." Die schließliche Überwindung der Fragilität der Lohnarbeit durch Fordismus bzw. Keynesianismus und den stetigen Ausbau des Sozialstaates ging allerdings einher mit den Jahrzehnten des Wirtschaftswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg.

In der Identifizierbarkeit und entsprechenden Operationalisierung der Klassen- oder Kollektivsituation sowie einem stabilen und kräftigen Wirtschaftswachstum hat Castel Voraussetzungen sozialpolitischer Lösungsansätze herausgearbeitet, die in der derzeitigen Lage nicht mehr in dem ursprünglichen Umfang gegeben sind. Der Gemeinschaftsaspekt und die Ressourcen informeller Solidarität seien praktisch erschöpft.

Die Betrachtungen Castels, die eine deutliche Parteinahme für einen starken Sozialstaat nicht verbergen, sind sehr anregend, lassen aber einige interessante Ansätze für eine Problematisierung der Entwicklung ungenutzt. So könnte gerade an die treffende Feststellung vom Zerfall kollektivierbarer Interessenlagen die Überlegung anknüpfen, dass gerade die Hypertrophie einer zentralistischen Kollektivversorgung wegen ihrer immensen Kosten zu neuen Ausgrenzungserscheinungen führt. Eine Reflexion über eine Rückkehr zu föderalen gemeinschaftlichen Versorgungssysteme, wie sie in jüngster Zeit von Kommunitaristen favorisiert wird, hätte sich ebenfalls gut an die geschichtlichen Betrachtungen angeschlossen. Die Produktivitätszuwächse, die als ausschlaggebender Fortschritt und grundlegend neue Bedingung der sozialen Frage bereits zum Massenwohlstand der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt haben, werden nicht hinreichend als Faktor und Chance für eine Problemlösung berücksichtigt. So muss es als durchaus fragwürdig angesprochen werden, ob das ausgeliefert-Sein an Verwundbarkeit und Zufall heute unter den gleichen Vorzeichen thematisiert werden kann wie die soziale Not der feudalen und frühindustriellen Verhältnisse. Da zwar nicht mehr so sehr das Wachstum der Wirtschaft, nach wie vor aber eine hohe industrielle Produktivität als Grundlage für allgemeine Prosperität vorhanden ist, könnten heute ganz neue Ursachen für gesellschaftliche Dissoziationstendenzen wirksam sein. Immerhin wird auch in Castels Schilderungen deutlich, dass neuartige Dimensionen wie Überschuldung und Bindungsverluste durch familiäre Zerrüttungen auftreten.

Eine grundlegende Reflexion über Vergangenheit und Zukunft der sozialen Frage wird noch systematischer vorgehen, den Fokus noch mehr auf eine präzise Grenzlinie zwischen Kontinuitäten und neuartigen Phänomenen legen müssen. Castels Untersuchung der Lohnarbeit wird aber eine hilfreiche Quelle sein, wenn man sich der Geschichte zur Problematisierung der sozialen Frage bedienen will.

Annekatrin Gebauer, Neustadt/W.





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