ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Manfred Schwarzmeier, Parlamentarische Mitsteuerung. Strukturen und Prozesse informalen Einflusses im Deutschen Bundestag, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001, brosch., 449 S., 68 DM.

Schwarzmeiers Studie, der eine Dissertation beim Parlamentarismusforscher Heinrich Oberreuter zu Grunde liegt, ist ein Schulbeispiel des aktuellen politikwissenschaftlichen Paradigmas. Sie widmet sich dem schwierigen Thema der informalen Prozesse und Einflussmechanismen zwischen Parlament und Regierung. Der Autor folgt dem üblichen Verfahren, der empirischen Untersuchung eine theoretische Reflexion voranzustellen. Er formuliert vier untersuchungsleitende Fragen: (1) Die Frage nach den Ursachen der Mitsteuerungstätigkeit der Regierungsfraktion, (2) nach den Rahmenbedingungen und Determinanten der Mitsteuerungsfähigkeit und -leistung, (3) nach den Erscheinungsformen und schließlich (4) den Funktionen der informalen Mitsteuerung.

Das nicht-quantifizierte empirische Material gewinnt Schwarzmeier vor allem aus Interviews mit Abgeordneten und ehemaligen Abgeordneten, aus wissenschaftlichen und journalistischen Schilderungen der Parlamentspraxis sowie in geringem Umfang aus autobiographischen Büchern von Politiker. Im dritten Teil wird an acht Fallbeispielen konkrete parlamentarische Mitsteuerung dargestellt und untersucht, indem die einzelnen Schritte der Entscheidungsfindung, die unterschiedlichen Positionen und die entsprechenden Erfolge bzw. Misserfolge der Einflussnahme aufgezeigt werden.

Ex negativo wird all das als informal umrissen, was nicht zur "Schauseite" der Organisation gehört, was nicht dem transparenten, verfahrensrechtlichen Ablauf zuzuordnen ist. Aus dieser Gegenstandsbestimmung ergibt sich ein größeres Gewicht der informalen Prozesse im Verhältnis zwischen Regierungsfraktion und Regierung, weil dort aus der Gemeinsamkeit des Interesses heraus die Schutzräume der informalen, nicht-öffentlichen Koordination genutzt werden, während die Kontrollfunktion der Oppositionsfraktion sich weitgehend im öffentlichen Raum abspielt.

Der heuristische Wert der "Theorie" erscheint in der Bilanz für die Fragestellung der Studie äußerst beschränkt. Der Ertrag der mit viel Fleiß zusammengestellten abstrakten Skizzen zu "Handlungsrollen", "Entstehungszusammenhängen und Funktionen" , "Handlungsebenen", formalen und informalen Normen, Informationen und Kommunikationsprozessen enthält vor allem Selbstverständliches, z.B. dass informales Handeln normengeleitet ist, dass Mitsteuerung ohne Informationen nicht möglich wäre, dass zwischen der formalen und der informalen Ebene eine intensive Interdependenz besteht u.ä. Der einzige theoretische Fokus, der auch ein Gewicht für die Empirie entwickelt, ist die Annahme einer Verursachung der informalen Prozesse durch die Zweckrationalität des Systems. Die These des Autors ist die, dass die informale Mitsteuerung der Regierungsfraktion funktionale Defizite der formalen Organisation kompensiert: Um Ressourcen zu schonen, Informationswege zu verkürzen ("kleiner Dienstweg"), Abstimmungsprozesse durch Koordination im Vorfeld kalkulierbar zu machen und vor allem um die Geschlossenheit zwischen Regierung und den stützenden Parlamentsfraktionen zu sichern, werden informale Wege der Kommunikation gesucht.

Der Neuigkeitswert und der wissenschaftliche Status der aufgezeigten Phänomene, die nichts anderes sind als die bei jedem politischen Handeln vorzufindenden informalen Koordinierungs- und Abstimmungsprozesse, werden vom Autor wohl etwas überschätzt. Die Begründung derselben aus einem gegebenen systemischen Zweck heraus, ist zwar nicht gänzlich verkehrt, reduziert die Motivation informalen Handelns aber allzu sehr auf den überindividuellen Nutzen einer funktionierenden Regierungsarbeit.

Dies wird vor allem bei den recht eingängig und informativ geschilderten Fallbeispielen deutlich. Bei näherer Untersuchung würde sich herausstellen, dass die Motive der Akteure heterogener und auch weitaus subtiler sind, als die schematische Begrifflichkeit suggeriert. Insbesondere die obstruktiven und dysfunktionalen Wirkungen von oppositionellen informalen Gruppierungen und ad-hoc Bündnissen oder auch Konkurrenzsituationen zwischen Akteuren, die informal ausgetragen werden, fügen sich nicht in die von Schwarzmeier konstatierte Zweckrationalität.

Indem die vergleichsweise stetigen Strukturen der informalen Gruppierungen für die Überlegungen nicht herangezogen werden, bleibt ein zentraler Ordnungsfaktor informaler Prozesse zwischen Regierung und Regierungsfraktion ungenutzt. Z.B. ließen sich die Einflussversuche der Parlamentarier auf die Koalitionsverhandlung zwischen FDP und SPD 1980 auf die Zugehörigkeit zu den Parteiflügel und informalen Fraktionskreisen zurückführen. Der Aspekt der Zugehörigkeit zu einer innerparteilichen Richtung oder auch eines personellen Zusammenhangs im Sinne einer freundschaftlichen, regionalen oder sonst wie gearteten Loyalität ließe sich auch für die anderen Fallbeispiel aufzeigen. Die Motivlage für die Einflussnahme ist hier eine inhaltlich-programmatische, eine des Machtbündnisses, aber keine systemrationale, die Wirkung ist keineswegs immer stabilisierend. Ein in allen Regierungsfraktionen vorzufindendes Muster, das auch in Schwarzmeiers Erhebung erkennbar ist, aber wiederum nicht systematisiert wird, ist die Funktion der besonders regierungsloyalen Fraktionsmitglieder, die benötigte Unterstützung und Geschlossenheit der Regierungsfraktion zu sichern, und die "Querschießer" und "Abweichler" auf Linie zu bringen.

Eine Typisierung und Theoretisierung der informalen Kommunikation zwischen Parlament und Regierung hätte sich besser an solche verstetigten informalen Bündnisse in den Fraktionen gehalten. Dies ließe sich sogar mit Schwarzmeiers Ansatz einer Funktion der Komplexitätsreduktion informaler Prozesse verknüpfen, weil die verfestigten informalen Gruppierungen die individuellen Meinungen bündeln und übersichtlicher machen.

Treffend und verdienstvoll ist indessen die normative Justierung, die Schwarzmeier für die Rolle der informalen Ebene vornimmt. Der Versuch, sie als Kompensationsfunktion aus der Rationalität der formalen Organisationen heraus zu legitimieren, ist zwar nicht ganz überzeugend. Aber als Denkansatz sinnvoll erscheint es, wenn er z.B. dem Schutz des nicht-öffentlichen Raumes, in welchem sich informale Koordinierung politischen Handelns abspielt, auch eine wichtige positive Zweckmäßigkeit beimisst. Von der landläufigen und viel strapazierten Skepsis, die informalen Prozesse untergrüben die formal-rechtlichen Legitimationsorgane, findet sich nichts. Vielmehr wird die informale Ebene als lebenswirkliche Ausgestaltung – mithin vollkommen legitime Verwirklichung – des formalen Rahmens aufgefasst.

Annekatrin Gebauer, Neustadt/W.





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