ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Stolleis, Konstitution und Intervention. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert, suhrkamp taschenbuch, Frankfurt am Main 2001, br., 288 S., kart., 23,90 DM.

Der Band fasst zehn Aufsätze des Autors zusammen, die in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden sind. Der besonderen Befähigung des Autors, in der kleinteiligen Darstellung exemplarisch die historisch wirksamen Faktoren und Entwicklungslinien der Zeit aufzuzeigen, ist es zu verdanken, dass trotz der Heterogenität der Gegenstände und der detaillierten Rekapitulation rechtsgeschichtlicher Entwicklung eine Gesamtsicht auf die Zeit entsteht. Eine erkennbare Parteinahme und Intention des Autors, die sich im Titel Konstitution und Intervention ankündigt, macht das Buch in besonderer Weise interessant und aktuell.

Stolleis zeigt immer wieder die Verbindungen der rechtsgeschichtlichen Entwicklung zu den jeweils gegenwärtigen politischen Optionen auf. So weist der Aufsatz über "Die Historische Schule und das öffentliche Recht", der die Kontinuität des historischen gegenüber dem dogmatischen Argument in der Rechtstradition des Reiches verdeutlicht, auf die Nähe des konservativen Lagers zur Historischen Rechtsschule, des Liberalismus zum naturrechtlichen Rechtsbegründung hin.

In ihrer parallelen Entwicklung zur bürgerlichen Emanzipation wird die Emanzipation des Judentums an einem biographischen Beispiel der Familie Loening demonstriert. Sie durchläuft die Stationen der politischen Offensive des Liberalismus im Jahre 1848, Depression und Niederlage nach dem Scheitern der Paulskirchenbewegung und die darauf folgende Konzentration auf den gesellschaftlichen Aufstiegs, der in das "Akkomodieren" mit den politischen Verhältnissen und schließlich in das Bündnis mit dem Obrigkeitsstaat mündete.

Ein Beitrag zur europäischen Rechtsgeschichte ist das Kapitel "1848 – ein Knotenpunkt der europäischen Geschichte", das den nationenübergreifenden Wirkkräften der bürgerlichen Revolution nachgeht: Die Verletzbarkeit des acien régime, die dem gesamten Kontinent durch die Französische Revolution sichtbar geworden war, der entstehende europäische Öffentlichkeitsraum und das Auftreten der sozialen Frage als Folge der Industrialisierung sind die europäischen Parallelen der politischen Entwicklung. Ähnlichkeiten mit dem aktuellen Prozess der europäischen Integration werden für die Bemühung in Deutschland zwischen 1866 und 1880 um eine Rechtsvereinheitlichung zur Festigung der erst geschaffenen staatlichen Einheit aufgewiesen. Eine Wurzel europäischer Rechtstradition erblickt Stolleis ferner in der Methode des Rechtsvergleichs. Die in Opposition zur Historischen Schule stehenden liberalen Juristen dieser methodischen Richtung neigten der modernen Parlamentsgesetzgebung zu.

Der übergreifende thematische Rahmen der einzelnen Kapitel ist das Kräftespiel und das Interessengefüge zwischen Liberalismus und Korporatismus, Einfluss und Emanzipation des liberalen Bürgertums einerseits, andererseits die Entstehung des Interventionsstaates unter Bismarck und das Ende der Dominanz des Liberalismus. Die Periodisierungen sind originell, zuweilen auch provokativ. In dem Aufsatz "Verfassungsideale der Bürgerlichen Revolution" wird das Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 als das der bürgerlichen Emanzipation zwischen ancien régime und industrieller Revolution gekennzeichnet. Die eigentümliche Entgegensetzung zwischen bürgerlicher und industrieller Revolution zieht sich durch den gesamten Band.

Die implizierte Botschaft an den Leser ist die Sorge um die Schwäche der liberalen Tradition in Deutschland, deren historischen Ursachen der Autor nachgeht. Der Interventionsstaat war die Formel Bismarcks gegen die desintegrativen Kräfte des Reiches. Er wollte einerseits den Sozialismus durch Repressionen und Sozialgesetzgebung schwächen, den Liberalismus gewinnen, indem er die deutsche Wirtschaft durch Schutzzölle gegen die Konkurrenz des Welthandels schützte, und die "ultramontanen" Einflüsse des politischen Katholizismus im Kulturkampf zurückdrängen. Dabei konnte Bismarck anknüpfen bei einer noch immer lebendigen wohlfahrtsstaatlichen Tradition und einem sittlichen Begriff vom sozial verantwortlichen Staat.

Die Folgen sind in der Darstellung des Autors beunruhigend. Der Liberalismus, der in Deutschland nie ganz zur Entfaltung gekommenen war, sich insbesondere politisch und ideologisch nicht festigen konnte, wird allzu früh vom korporatistischen Interventionsstaat abgelöst, der Interessenverbänden, obrigkeitlicher Bevormundung, einer dominierenden Bürokratie Einlass gebietet. Was Stolleis bei der Schilderung des versagenden Liberalismus und des florierenden Bürokratismus jedoch unterschlägt, ist der Aufstieg Deutschlands zur führenden Industrienation der Welt unter eben diesen Bedingungen. Die Parteinahme des Autors für den Liberalismus ist zwar angesichts der expansiven Entwicklung des Sozialstaates und des – insbesondere unter haushaltspolitischen Gesichtspunkten - regelrechte Unvermögens des modernen Korporatismus, einem der Klientelpolitik übergeordnetes Staatsinteresse Raum zu geben, verständlich. Gemessen an den wirtschaftlichen, kulturellen teilweise auch sozialpolitischen Erfolgen der intensiven staatliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Wissenschaft und Forschung, hat der Interventionismus Bismarckscher Provenienz durchaus Erfolge aufzuweisen.

Dessen ungeachtet ist der Hinweis auf die bedenkliche historische Entstehung des modernen Interventionsstaates aus einer Klientel- und Befriedungspolitik heraus wichtig.

Annekatrin Gebauer, Neustadt/W.





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