ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Barbara Stambolis, Religiöse Festkultur. Tradition und Neuformierung katholischer Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert: Das Liborifest in Paderborn und das Kilianifest in Würzburg im Vergleich, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2000, 400 S., geb., 88 DM.

Die vorliegende Studie – eine Paderborner Habilitationsschrift – analysiert Wandel und Konstanz in der katholischen Volksfrömmigkeit des 19. und 20. Jahrhunderts am Beispiel der religiösen Festkultur. Dies geschieht exemplarisch am Beispiel von zwei lokal und regional verankerten Beispielen, deren Tradition sich bis in das Mittelalter zurückverfolgen lässt. Der irische Mönch Kilian, der im 7. Jahrhundert Franken missioniert hatte, und der heilige Liborius wurden in Würzburg bzw. Paderborn festlich als Dom-, Stadt- und Bistumspatrone geehrt. Neben diesen regionalen Beispielen fließen insbesondere bei der Behandlung religiöser Feste und Wallfahrten unter nationalsozialistischer Herrschaft Beispiele aus den Bistümern Aachen, Köln, Fulda und Münster in die Darstellung ein. In den sieben chronologisch geordneten Kapiteln liegt der interpretatorische Akzent auf der (gebrochenen) Kontinuität der lebensweltlichen Motivlagen zur Teilnahme an den Festen bei einer verschiedentlichen Veränderung ihrer Form und ihrer inhaltlichen Akzentuierung.

Das spät barocke Kirchenfest legte den Akzent auf die Symbiose weltlicher und kirchlicher Herrschaft in den Mustern hierarchischer Differenzierung, welche die Masse der Festteilnehmer tendenziell als Ornament der fürstlichen Macht figurieren ließ. Die inner- und außerkirchliche aufklärerische Kritik an solch einer "äußerlichen" Festpraxis konnte deren "Auswüchse" bis zum Umbruch der Säkularisation nur partiell eindämmen. Dieser massive Umbruch, der das Kilianifest seit 1800 für beinahe vier Jahrzehnte zum Erliegen brachte, wird allerdings nur beiläufig erwähnt (S. 89). Religiöse Feste standen im 19. Jahrhundert in permanenter Konkurrenz zu weltlichen Volksfesten und zum neuen Typus der nationalen Feste. In einem sehr aufschlussreichen Abschnitt zeigt die Verfasserin, wie diese Situation zur Stilisierung der kirchlichen Heiligen zu regionalen Nationalheiligen führte. Kilian wurde so bereits im Vormärz als Patron aller Franken überhöht, während die Aufwertung von Liborius zum westfälischen Nationalheiligen erst im Kontext der konservativen Heimatbewegung der Weimarer Jahre an Dynamik gewann. Einzig Bonifatius schien als "Apostel der Deutschen" (S. 203) geeignet, die regionale Fragmentierung dieser nicht erst seit der Reichsgründung einsetzenden katholischen Aneignung nationaler Deutungsmuster zu überwinden. Die Nationalisierung der katholischen Festkultur scheint dabei in der Diaspora besondere Stärke gewonnen zu haben (S. 189).

Empirisch weniger dicht und konzeptionell unscharf scheinen mir jene Abschnitte, in denen die Verweltlichung des sonntäglichen Freizeitverhaltens unter dem Druck von industrieller Arbeitswelt und Urbanisierung vor allem bei der Arbeiterschaft des Ruhrgebietes untersucht werden. Es ist wohl nicht der ebenso viel beschworene wie abstrakte "soziale Wandel" (S. 107), sondern die Ausdifferenzierung von Arbeitszeit und freier Zeit als Freizeit gewesen, welche kirchliche Aktivitäten unter den Konkurrenzdruck säkularer Vergnügungen setzte und damit den ehedem christlichen "Sonntag" zum "Weekend" (Urs Altermatt) werden ließ. Die beiden abschließenden Kapitel behandeln zunächst die vor allem von der katholischen Jugendbewegung getragene Erneuerung der Festkultur in der Weimarer Republik, den "Demonstrationskatholizismus" in Festen und Wallfahrten während der NS-Herrschaft. Am Ende steht ein Ausblick auf die Reformulierung der Festtradition seit 1945 im Zeichen des "christlichen Abendlandes" und der regionalen "Heimat"-Kultur unter Einschluss der Vertriebenen mit ihren eigenen Frömmigkeitstraditionen. Der religiöse Aufschwung des Jahres 1945 wird dabei in seinem Ausmaß weit überschätzt.

Die Arbeit von Barbara Stambolis ist eine wichtige, aber an vielen Stellen nicht überzeugende Studie zur religiösen Festkultur in der Moderne. Sie setzt den Akzent auf ein Moment der "langen Dauer" des religiösen Festes, das sich durch die Modernisierung seiner Formensprache und die Erfüllung lebensweltlicher Orientierungsbedürfnisse trotz des gesellschaftlichen Wandels und der weltlichen Alternativen bis in die Gegenwart behauptet hat. An dieser insgesamt überzeugenden Kernthese sind allerdings gravierende Einschränkungen anzubringen, die sich auf Probleme der Quellenkritik und des Verhältnisses von Methode und Darstellungsform beziehen. Feste sind per definitionem fluide, momenthafte Ereignisse, deren Vergänglichkeit sich auch in den zu ihrer Beschreibung vorhandenen Quellen spiegelt. Die Verfasserin verweist auf die intensive Auswertung der Bestände in den Bistumsarchiven vor allem von Würzburg und Paderborn. De facto fußt ihre Darstellung der Festabläufe weitgehend auf den Berichten in der lokalen Tagespresse. Damit ist eine notorische Unschärfe in der Analyse der Motive und Bewusstseinshaltungen der Festteilnehmer - im Unterschied zu den Intentionen der Organisatoren - verbunden. Dieses Problem wird jedoch nur im Kontext der nationalsozialistischen Vereinnahmung des weltlichen Kilian angesprochen (S. 228) und führt zu fortwährenden Spekulationen über die Motivlagen der Teilnehmer oder - für die Zeit von 1933-1945 - zur unkritischen Wiedergabe der allerorten Widerständigkeit unterstellenden SD-Berichte (S. 230f., 241, 246f., 263, 274 u.ö.).

Methodisch ist eine Kulturgeschichte des religiösen Festes intendiert. Eine – verunglückte - Bezugnahme auf den Ansatz der "dichten Beschreibung" (S. 18, Anm. 78) zeigt jedoch das Manko einer Darstellung auf, in der sich nur eine einzige ausführliche und deshalb noch lange nicht "dichte" Beschreibung eines tatsächlichen Festgeschehens finden lässt (S. 149ff.). Eine gründliche hermeneutische Rekonstruktion von Festabläufen wäre jedoch die Voraussetzung für Thesen über den Sinngehalt dieser kulturellen Konfiguration gewesen. Einmal mehr zeigt sich, dass nicht die fehlende Relevanz für die "allgemeine" Geschichte das Problem kulturgeschichtlicher Arbeiten ist. Hinderlich sind vielmehr formelhafte Bezugnahmen auf methodische Postulate und das Fehlen einer tatsächlichen Quellenkritik. Diese wäre aus dem propädeutischen Getto des Proseminars zu befreien, im Hinblick auf die Chancen und blinden Flecke der benutzten Quellen zu differenzieren und damit für eine reflektierte Umsetzung kulturhistorischer Prämissen überhaupt erst fruchtbar zu machen.

Benjamin Ziemann, Bochum





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