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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stadtarchiv Reutlingen/Reutlinger Geschichtsverein, Reutlingen in den Revolutionsjahren 1848/49 (=Reutlinger Geschichtsblätter, Neue Folge, Band 38, 1999), Reutlingen 2000, 647 S., geb., 63 DM.

Wer unter dem etwas irreführenden Etikett "Reutlinger Geschichtsblätter" 1999 eine Sammlung unverbundener Aufsätze zur Stadtgeschichte Reutlingens 1848/49 erwartet hat, sieht sich angenehm enttäuscht. Es handelt sich bei diesen "Reutlinger Geschichtsblättern" (die leider erst nach dem großen Boom 1997/98 erschienen sind) um den sehr soliden, in hohem Maße quellengesättigten "ersten Versuch einer Gesamtdarstellung und Gesamtwürdigung" (wie der Stadtarchivar einleitend etwas vorsichtig formuliert) der Geschichte Reutlingens im Vormärz (seit 1832) und während der Revolution.

Silke Knappenberger-Jans, die Verfasserin der lokalhistorischen Monographie, beginnt ihre Darstellung mit dem "Nebelhöhlenfest", einem traditionellen, örtlichen Volksfest, das Anfang Juni 1832, zwei Wochen nach dem berühmten Hambacher Fest, von Studenten und "Bürgerrechtlern" ansatzweise, wiewohl "scharf beobachtet von württembergischen Landjägern", zur "oppositionellen Kundgebung umfunktioniert" wurde. Wachsende Teile (auch) der Reutlinger Bevölkerung wurden bereits in den Dreißigerjahren politisiert, wie die Verfasserin am Beispiel des örtlichen Polen-Comités und der Aktivitäten reisender, frühsozialistisch inspirierter Handwerkergesellen nachweisen kann. Einer detailreichen Darstellung der Vereinsbewegung in den Jahren vor der Revolution, darunter der im Südwesten wichtigen Turnerbewegung sowie der im Wortsinne "honorigen", örtlichen Bürgergesellschaft (die in Württemberg im Unterschied zu Preußen offenbar kaum polizeilichen oder rechtlichen Restriktionen ausgesetzt waren), folgt eine ausführlichere Darstellung der "Reutlinger Glückwunschadresse" an die Schweizer Revolutionäre von 1847. Diese Passage ist deshalb wichtig, weil sie den in der Revolutionshistoriographie bis vor kurzem wenig bekannten Tatbestand exemplarisch illustriert, dass der Sieg der Schweizer "Liberalen" und (das unterschlägt die Verfasserin) vor allem demokratischen "Radikalen" im kurzen, relativ unblutigen Sonderbundskrieg vom November 1847 die deutsche wie überhaupt die ganze europäische Revolutionsbewegung entscheidend stimuliert hat.

Mit einer fast den gesamten Kontinent erfassenden Revolutionswelle rechnete allerdings Ende 1847 noch niemand. Und auch die alten Regime wähnten sich noch fest im Sattel. Der württembergische König jedenfalls wollte einen der demokratischen "Rädelsführer" Reutlingens und Initiatoren der Grußadresse an die Schweizer, den Rektor des örtlichen Lyzeums Carl Friedrich Schnitzler (der von Heinrich Betz im selben Band noch in einem separaten, ein wenig geschwätzigen Aufsatz gewürdigt wird), umgehend disziplinieren, nach dem Motto: "Ein so unkluger und taktloser Mann" gehöre nicht "an die Spitze einer höheren Lehranstalt". Der Monarch scheiterte sang- und klanglos. Denn ebenso prompt wiesen anscheinend sämtliche "Reutlinger Honoratioren" das versuchte Berufsverbot zurück. Schnitzler, der 1848/49 dann zu einem der prominenten demokratischen Abgeordneten des württembergischen Revolutionslandtages 1848/49 aufsteigen sollte, sei – so das treffsichere wie lakonische Argument der mit ausgeprägtem "Bürgermut vor Königsthronen" ausgestatteten Reutlinger Honoratioren - ein Mann, der "lediglich bestrebt ist, die Wahrheit zu verfechten und die Sache des Fortschritts zu fördern".

Im Anschluss an diese instruktive Episode thematisiert Knappenberger-Jahns in der gebotenen Ausführlichkeit die Reutlinger Hungerrevolte Anfang Mai 1847 samt ihren kommunalpolitischen Folgewirkungen, um sich danach ihrem Hauptthema, den lokalen Ereignissen und Entwicklungen während der Revolutionsjahre zu widmen. Schwerpunkte der Darstellung bilden die Presse vor und während der Revolution, die Wahlen zur National- und Landesversammlung, die relativ zahlreichen politischen Vereine, die Organisationen, in denen sich die verschiedenen gewerblichen Interessen artikulierten, die Ereignisse seit September 1848, die Reichsverfassungskampagne 1849 – einschließlich der Reutlinger Pfingstversammlung vom 27. und 28. Mai 1849 - sowie die Bürgerwehr. Die Verfasserin schwimmt zwar im Trend der lokahistorischen Forschung. Sie bereichert jene jedoch um einige spannende Fassetten, etwa in den Passagen über die Bürgerwehr: Die Stadtmiliz Reutlingens war, wie ihre "Geschwister" in den meisten anderen Städten, sozial und ebenso politisch in hohem Maße heterogen. Sie nahm auch ein ähnliches Schicksal wie die Bürgerwehr anderer Orte. Drei Viertel der eigentlich "wehrpflichtigen" Stadtbürger drückten sich vor dem Bürgerwehrdienst; viele derjenigen, die ihr nominell angehörten, vernachlässigten ihre Pflichten trotz "harter Sanktionen bei Dienstvergehen" auf "schmachvolle Weise". Dies galt allerdings offenbar nicht für die "Freiwillige Compagnie" bzw. das "Jugendbanner", die im Mai 1849 entstanden und sich aus Arbeitern und Weingärtnern rekrutierten, denen zuvor die Aufnahme in die Bürgerwehr versperrt worden war. Bei den regulären Truppen war die bürgerlich-"revolutionäre" Konkurrenz offenbar verhasst. Im Spätsommer 1849 schossen Reutlinger Artilleristen jedenfalls gern auf Scheiben, die Bürgerwehrmänner bzw. "Freischärler" abbildeten; ein Jahr zuvor hatten sie noch den König von Preußen zum "Pappkameraden" gemacht und zu treffen gesucht. Anfang der Fünfzigerjahre hauchte wie in ganz Württemberg auch die Reutlinger Bürgerwehr ihr Leben aus. Spannend (und m.E. ‚einzigartig‘) ist, dass (und wie) geschäftstüchtige Handwerker die anfängliche Euphorie, mit der Bürgerwehr würde die lange herbeigesehnte Volksbewaffnung endlich Realität werden, nutzten und eine eigene Reutlinger "Gewehrfabrik" gründeten. Diese offenbar nach klassisch-handwerklichem Produktionsmuster arbeitende "Gewehrfabrik" war freilich wenig produktiv. Für die Herstellung der benötigten 1200 Gewehre hätte sie mehrere Jahre gebraucht; ein "Import" aus dem "Ausland" zur Ergänzung der in Reutlinger Eigenregie produzierten Waffen ließ sich nicht umgehen.

Obwohl gescheitert, hinterließ die Revolution tiefe Spuren. Zum Leidwesen des Reutlinger Oberamtmannes hielt die demokratische "Umsturzpartei" auch weiterhin alle kommunalen Schaltstellen besetzt, wie dieser im Februar 1853 klagte. Auch in der Folgezeit, so jedenfalls Knappenberger-Jans, seien die Demokraten "aus dem öffentlichen Leben Reutlingens nicht mehr wegzudenken" gewesen. Verdienstvoll mit Blick nicht zuletzt auf künftige lokalhistorische Vergleiche ist ein 120-seitiger Quellenteil, der die 270-seitige Darstellung ergänzt (allerdings leider keine Zahlen zur sozialen Zusammensetzung der Bürgerwehr und der Vereine enthält).

Angehängt sind der umfangreichen lokalhistorischen Monographie vier umfängliche biografische Aufsätze herausragender Repräsentanten der liberaldemokratischen Bewegung Reutlingens – neben Carl Friedrich Schnitzler: Wilhelm Kapff, Gustav Heerbrandt und Theodor Greiner. Abgerundet wird der Band durch Beiträge von Dieter Langewiesche über die Endphase der Revolution "in der Provinz" (und hier vor allem über die Reutlinger Pfingstversammlung Ende Mai 1849) und von Hermann Bausinger über das "Erbe der Revolution". Beide Aufsätze sind ausgesprochen lesenswert, nicht zuletzt Bausingers Kritik an dem Tenor einer breiten Strömung in der Revolutionshistoriographie: "kaum ein Wort von den Unruhen, die allenthalben das Klima bestimmten, nichts von der Nervosität und Aufgeregtheit, die das ganze Land ergriffen hatte, nichts von drakonischen Strafmaßnahmen und zerstörten Lebensläufen." Die "Revolution" sei namentlich 1998 staatstragend deformiert worden und zur "gutbürgerlichen Veranstaltung" geronnen, zum "Schachspiel ehrbarer Diplomatie, in dem die Figuren in gediegenen Schritten die Plätze wechseln". Eine solche Revolution, garantiert "jugendfrei, friedlich, sogar ein bisschen langweilig", ließ sich vortrefflich politisch funktionalisieren: "kaum mehr ein Minister im Land, der sich nicht bei irgendeiner Veranstaltung – natürlich von Bodyguards bewacht – mit dem Heckerhut geschmückt hätte."

Den hier vorliegenden "ersten Versuch" einer – allerdings stark deskriptiv angelegten - Revolutionsgeschichte Reutlingens darf man ohne Einschränkungen als gelungen bezeichnen. Er gehört zu den wichtigeren lokalgeschichtlichen Arbeiten der neueren Revolutionshistoriographie. Jene selbst wird hoffentlich nicht in der "Asservatenkammer" verstauben. Sie besitzt allen staatstragenden Feierlichkeiten zum Trotz auch weiterhin eine gewisse politische Brisanz. Um noch einmal Bausinger zu zitieren: "Vieles, für das die 48er eintraten, ist immer noch Wunschbild und Aufgabe."

Rüdiger Hachtmann, Berlin





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