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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dittmar Schorkowitz, Staat und Nationalitäten in Russland. Der Integrationsprozess der Burjaten und Kalmücken, 1822-1925 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Band 61), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2001, 616 S., geb., 188 DM.

Seit gut zwanzig Jahren hat sich die Untersuchung der Nationalitäten des russischen Vielvölkerreichs in der Osteuropaforschung etabliert. Dabei steht insbesondere die Untersuchung des 19. Jahrhunderts im Vordergrund, in dem sich die russische Nationalitätenpolitik unter dem Einfluss von Modernisierungsprozessen und des aufkommenden nationalen "Erwachens" fast aller ethnischer Gruppen verstärkt wandelte. Zunehmend wich man von den traditionellen Mustern der Respektierung des Status Quo und der Kooperation mit den loyalen Eliten ab; an die Stelle der "Toleranz eines aufgeklärten Absolutismus" (S. 20) trat Ende der Zwanzigerjahre eine unifizierende Integrationspolitik, die sich in Repressionen, Unifizierungs- und Russifizierungsmassnahmen zeigte.

In seiner vorgelegten Habilitationsschrift untersucht Dittmar Schorkowitz, der zurzeit am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin als Lehrbeauftragter tätig ist, den rund hundertjährigen Integrationsprozess der beiden einzigen mongolischen Völker Russlands in das Russische Reich. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Fragen nach den Mitteln, Strategien und Begründungen, mit denen der russländische Staat seine Integration betrieb; den Methoden, die zur Homogenisierung und Unifizierung des Vielvölkerreichs eingesetzt werden sollten und der tatsächlichen Effektivität der angewandten Herrschaftsmethoden. Darüber hinaus sollen "Kontinuitäten der Russifizierungspolitik" im 19. Jahrhundert und deren Übergänge in die frühe Sowjetisierung aufgezeigt werden, die für den Autor "das allgemeine Merkmal in der Kontaktgeschichte des russischen Staates und der ostslavischen Kultur mit seinen allogenen Nationalitäten darstellt" (S. 22). Da die zarische Regierung nie wirklich eine konstante, einheitliche Politik gegenüber den nichtslavischen Völkern formuliert hat, sieht Schorkowitz in ihr "die kohärente Form eines imperialen Integrationsbemühens mit in Raum und Zeit graduell recht unterschiedlichen Ausprägungen" (S. 24). Auch wenn die Untersuchung der administrativen, ökonomischen und kulturellen Russifizierung der nichtslavischen Nationalitäten vor allem an der asiatischen Peripherie richtig als Desiderat der Forschung erkannt wurde, führt doch die Kritik des Verfassers an der bisherigen Betrachtungsweise, die sich besonders auf die kulturellen Aspekte und die Westprovinzen des Russischen Reiches beschränke, zu weit: Zuletzt untersuchte beispielsweise Christian Noack in seiner Kölner Dissertation u.a. das Phänomen der Russifizierung bei den Muslimischen Nationalitäten (Tataren und Baschkiren); und schon Andreas Kappeler wusste in seinem 1992 erstmals publizierten Werk "Russland als Vielvölkerreich" starke Bedenken über die Tragfähigkeit des Russifizierungskonzepts insbesondere für die rechtliche Kategorie der inorodcy zu äußern und charakterisierte die Politik gegenüber zahlreichen Ethnien eher als eine auf Segregation und Diskriminierung ausgerichtete.

Dennoch ist die äußerst materialreiche Arbeit, die eine Vielzahl bisher unveröffentlichter Quellen aus russischen, kalmückischen und burjätischen Archiven verarbeitet, gelungen. Durch den gewählten vergleichenden Blickwinkel verdeutlicht Schorkowitz klar die Heterogenität des staatlichen Vorgehens in der teils rigoros durchgesetzten Bildungs-, Sprachen- und Religionspolitik. Trotz der zahlreichen Übereinstimmungen in Abstammung, Kultur, Religion (Buddhisten) und Ökonomie (nicht sesshafte Nomaden) vermag der Autor zu zeigen, dass die Kontaktgeschichte beider Nationalitäten mit dem Russischen Reich in oftmals unterschiedlichen Entwicklungslinien verlief, wenngleich als Ergebnis auf beiden Seiten eine nie vollzogene Russifizierung festzustellen ist.

Weder in Russland noch in der Sowjetunion schien nicht die Integration, sondern die Subordination der Nationalitäten das tatsächliche Vorhaben gewesen zu sein (z.B. S. 424). Zielte der russische "Kulturimperialismus" – recht dürftig dargelegt als ein "Einwirken des Imperiums auf die Kulturwelt seiner Nationalitäten" oder ein "an die Peripherie transportierter Russozentrismus" (S. 15) – auf eine Aufhebung der kulturell-ethnischen Merkmale ab, war die Russifizierung im Wesentlichen durch die Aushöhlung der jeweiligen Selbstverwaltung, die Angleichung der bestehenden Rechtssysteme, die Enteignung autochthonen Landbesitzes für staatliche Siedlungsprogramme und den Versuch der kulturellen Assimilation gekennzeichnet. Besonders im Feld der Siedlungspolitik tritt die Entwicklung vom Vielvölkerstaat zum Arbeiter- und Bauernstaat deutlich aus ihren Konturen hervor, sodass Schorkowitz konstatiert, dass sowohl die zaristische als auch die sowjetische Regierung im Feld burjatischer und kalmückischer Ländereien hauptsächlich Landraub betrieb (S. 474). Die im großem Umfang durchgeführte Landnahme beschleunigte den Untergang des extensiven Pastoralnomadismus und infolge dessen auch die soziale Differenzierung bei Burjaten und Kalmücken, wenngleich sie auch in unterschiedliche Transformationsprozesse mündete.

Es verwundert daher nicht, dass die kulturelle Russifizierung bei der Siedlungs- und Missionspolitik durchweg auf einem recht oberflächlichen Niveau stehen blieb. Bei letztgenannter schien die russisch-orthodoxe Kirche auch nicht wirklich an einer Bekehrung der Schamanisten und Lamaisten interessiert gewesen zu sein, genügte ihr doch der formale Taufakt. Angesichts der Tatsache, dass die Konvertierung den Konvertiten für einen gewissen Zeitraum Begünstigungen wie Steuerbefreiung und Ausschluss vom Wehrdienst bescherte, ist die mehrmalige Wiederholung des Taufakts alles andere als verblüffend. Allein im administrativen Bereich scheint die Integration infolge der tiefen Einschnitte in die bestehenden Verwaltungs- und Rechtssysteme von einem langfristigem Erfolg gesegnet worden zu sein, obwohl sie den tatsächlichen Bedürfnissen der Nomaden gänzlich widersprach oder auf Grund der sehr auf das eigene Wohl bedachten Verwaltungsbeamten in der Umsetzung scheiterte.

Dass die angestrebte Vereinfachung der Strukturen nicht nur in den bereits genannten Feldern, sondern ebenso in der Kooptation und Instrumentalisierung der Eliten, der Sprachenpolitik und der forcierten Umwandlung der Nomaden in sesshafte Bauern und Kosaken mitunter durch sich widersprechende Partikularinteressen von Zar und Adel, von Ministerien und Kirche geprägt war, scheint symptomatisch für die Differenz zwischen staatlichem Anspruch und Wirklichkeit im Bereich der Integration. Es überrascht demnach nicht, dass sich im Urteil des Autors die Russifizierung eher desintegrativ auswirkte, da sie auf großen Widerstand bei den Völkern stieß und ein dort erst schwach ausgeprägtes Nationalbewusstsein verstärkte. Auch die Leninsche Nationalitätenpolitik folgte trotz zahlreicher Revolutionsversprechen den bekannten Herrschaftsstrategien. Schon bald verloren die Integrations- und Mitbestimmungsprinzipien der Nationalitäten gegenüber dem Streben des Staates nach Macht und Kontrolle an Bedeutung.

Abschließend bleibt zu sagen, dass sich Schorkowitz mit dieser gründlichen Arbeit, die seine Dissertation in gewisser Weise fortführt, auf dem Feld der Erforschung der nichtslavischen Völker an der Peripherie des Russischen Vielvölkerreiches etabliert hat. Um die Lektüre dieses Buches, das mit einem ausgezeichnetem Personenverzeichnis und einem hilfreichem Glossar ausgestattet ist, wird der sich dem Studium der zahlreichen Nationalitäten in der Geschichte Russlands verschriebene Historiker in Zukunft nicht herumkommen.

Alexander Kraus, Köln





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