ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Pierre Rosanvallon, Der Staat in Frankreich von 1789 bis in die Gegenwart. Aus dem Französischen übersetzt von Heide Gerstenberger und Hedwig Linden (=Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hrsg. von Heide Gerstenberger und Hans-Günter Thien, Band 15), Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, 273 Seiten, kart., 68 DM.

Der renommierte Sozialwissenschaftler Pierre Rosanvallon ist mit einer Reihe von Büchern und Essais zur Politik und Gesellschaft Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert hervorgetreten, die häufig auch Beiträge zu aktuellen politischen Debatten waren. So nimmt auch sein 1990 erschienener "Staat in Frankreich" Bezug auf die alte und im Zeichen des Neoliberalismus neu belebte Kritik am Wachstum des Staates, seiner Bürokratie, seiner Regelungswut und Übermacht. Ziel des Buches ist freilich zunächst ein akademisches: Rosanvallon will einen Anstoß geben zur wissenschaftlichen Erforschung des Staates in Frankreich und seiner Geschichte, die geeignet wäre, viele Klischees von der "etatistischen Tradition Frankreichs" zurechtzurücken. Tatsächlich ist das Phänomen Staat ausgerechnet in Frankreich bisher kaum erforscht worden; selbst zu dem gut fassbaren Teilbereich der öffentlichen Verwaltung fehlen grundlegende Arbeiten. Daher kann Rosanvallon auch nicht auf knapp 200 Seiten Text einen Überblick über 200 Jahre Staat in Frankreich bieten, sondern will nur einen Rahmen für ein zukünftiges Forschungsprogramm vorgeben, Fragestellungen und einen methodischen Ansatz entwickeln. Als Basis für zukünftige Arbeiten dienen auch die Anhänge und die ausführlich kommentierte Bibliografie, die deshalb den Schwerpunkt auf Quellen und zeitgenössische Literatur legt und die neuere, insbesondere angelsächsische Literatur z.B. zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, nur streift. In einer Übersetzung, die sich ja an des Französischen nicht kundige Leser wendet, ist ein 44 Seiten starkes Verzeichnis französischen Literatur allerdings kaum sinnvoll.

Der "große Wurf", als den der deutsche Verlag den "Staat in Frankreich" preist, kann und will Rosanvallons Buch nicht sein und man täte ihm unrecht, wollte man ihn an dieser vollmundigen Ankündigung messen. Stattdessen ist ihm ein überaus anregendes Buch gelungen, das wichtige Fragen herausarbeitet und durch eine Vielzahl kluger Beobachtungen besticht, gestützt auf eine Fülle empirischen Materials und die Vertrautheit des Autors mit der Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Die zitierten Quellen illustrieren vor allem das Verhältnis der Zeitgenossen zum Staat und damit den Wandel des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Staat. Darin nämlich liegt Rosanvallons Ansatz begründet, dass er nicht den Staat als Ding an sich betrachtet oder ihn mit dem Staatsapparat identifiziert, sodass die Zahl der Beamten oder die Höhe des Budgets schon Aufschluss geben könnten über die Natur des Staates, dessen Geschichte dann die seines Wachstums wäre. Vielmehr sucht er den Staat als politische Form zu begreifen, der nur in Beziehung zur Gesellschaft existiert und selbst Ergebnis seiner Interaktion mit der Gesellschaft ist. Während der Staatsapparat, wie Tocqueville demonstriert hat, über die Jahrhunderte eine erstaunliche Kontinuität aufweist, unterscheidet sich die Beziehung der nachrevolutionären Gesellschaft zum Staat grundlegend von der des ancien régime. Die vier verschiedenen Formen dieser Beziehung, die Rosanvallon herausarbeitet, bilden die vier Kapitel des Buches.

Das erste Kapitel "Der demokratische Leviathan" zeigt zunächst am Beispiel der Staatsfinanzen, wie die Idee des Gesellschaftsvertrages und die Entstehung repräsentativer Regierungssysteme die Natur des Staates verändert. Die Gesellschaft konstituiert den Staat, der nicht mehr, wie im Absolutismus, in einer abgeschlossenen Sphäre des Politischen nach seinen eigenen Gesetzen, seiner "raison d’Etat" handeln darf, sondern den Forderungen von Öffentlichkeit und Transparenz genügen muss. Der revolutionäre Anspruch, Regierung und Verwaltung der volonté générale zu unterwerfen, begründet das "régime d’assemblée", das Rosanvallon als spezifisch französische Form des Parlamentarismus analysiert. In ihrer radikalsten Ausprägung unter der Herrschaft der Jakobiner führt dieser Gedanke der unmittelbaren Umsetzung der volonté générale durch die Repräsentanten der Nation 1794 zur Abschaffung der Ministerien, aber als politisches Erbe der Revolution lebt er auch unter den nachfolgenden parlamentarischen Regimen fort. Nach Rosanvallon spiegelt die konstante Kritik der Zeitgenossen an der Verwaltung weniger eine tatsächlich übermächtige Bürokratie als vielmehr diese französische Konzeption der Exekutive als einer lediglich ausführenden Gewalt ohne jede politische Autonomie. Das Ideal einer passiven Verwaltung, die nur umsetzt, was das Parlament beschlossen hat, erklärt z.B. den Verzicht auf eine gesetzlich geregelte Rekrutierung, Ausbildung und Prüfung der Beamten, die als untergeordnete Weisungsempfänger besonderer Fachkenntnisse nicht bedürfen.

Noch zentraler für das Verständnis des französischen Staates erscheint Rosanvallon eine zweite Besonderheit, die den Gegenstand des zweiten Kapitels bildet. Weil die französische Revolution nicht nur die politischen, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen umgestürzt hat, schreibt sich der Staat die Aufgabe zu, die Gesellschaft neu zu instituieren, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu schaffen, ohne den Frankreich in eine Ansammlung von atomisierten Individuen zerfallen müsste. Zurecht stellt Rosanvallon fest, dass das Gesetz le Chapelier über die Abschaffung der Zünfte und Korporationen mit seiner grundsätzlichen Verurteilung jeder Form von intermediärer Gewalt das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in Frankreich dauerhaft geprägt hat. Nicht nur Zünfte, sondern jedwede gewachsene wirtschaftliche, soziale oder politische Formation galt fortan als Überbleibsel des Feudalismus und jede neue Vereinigung als Wiederbelebung feudaler Privilegien. Rosanvallon kann die Rede vom drohenden Zerfall der Gesellschaft als konstanten Topos im politischen Denken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisen, fragt aber, seinem ideengeschichtlichen Ansatz verhaftet, nicht nach der sozialen Realität, dem staatlichen Verbot der Bildung von Vereinen und Parteien. Er zieht also keine Verbindung zwischen der von ihm beschriebenen anti-pluralistischen politischen Kultur Frankreichs und dem in der Volkssouveränität begründeten Machtmonopol des Staates, der keine gesellschaftliche Vereinigung duldet, es sei denn, er habe sie selbst instituiert. Die deutsche Übersetzung verschärft noch die Tendenz des Verfassers, die Institution der Gesellschaft durch den Staat als kategorischen Imperativ zu betrachten: Wo Rosanvallon von der Aufgabe schreibt, "qu’il (l’Etat) s’assigne pour produire la nation", lautet die Übersetzung platt: "Der französische Staat hatte die Aufgabe, die Nation zu schaffen"(S.71).

Hingegen gewinnt der Leser ein klares, einprägsames Bild von den politischen Instrumenten, die der französische Staat entwickelt um diese Aufgabe zu erfüllen und von der Bedeutung der Kultur- und Schulpolitik für die französische Nation. Sehr kritisch unterstreicht Rosanvallon die utopische Dimension eines Staates, der darauf zielt, die Gesellschaft zu formen, die Menschen zu erziehen und die Gemüter zu erreichen und zu kontrollieren. Der Staat, der den sozialen Zusammenhang produziert, kann nicht nur Rechtsstaat sein; die Idee einer autonomen Zivilgesellschaft ist ihm fremd. Der Vergleich mit der englischen politischen Philosophie und Wirklichkeit lässt hier die Besonderheit des französischen Staates sehr deutlich hervortreten.

Der französische Sozialstaat, dem das dritte Kapitel gewidmet ist, entsteht nicht aus diesem Verständnis des Staates als Erzieher und Arzt der Gesellschaft. Wie Rosanvallon sehr schön nachweist, entwickelt das System sozialer Sicherheit vielmehr den demokratischen Rechtsstaat weiter und wurzelt in der revolutionären Debatte um die Rechte der Armen gegenüber der Republik, die 1848 in der Auseinandersetzung um das Recht auf Arbeit wieder aufgegriffen wird. Freilich bleibt diese Debatte während des ganzen 19. Jahrhunderts fast ohne Bedeutung für die sozialpolitische Wirklichkeit. Selbst die von Rosanvallon so bezeichnete sozial-republikanische Wende, als die Erkenntnisse Pasteurs und die Ideen Dürkheims die Rede von der Selbstverantwortung des Einzelnen für sein Schicksal zu Gunsten der Doktrin des "Solidarismus" verdrängen, findet nur vereinzelt ihren Niederschlag in Gesetzen zur sozialen Sicherheit. Wohl auch, weil die Geschichte der Ideen allein die Entwicklung des französischen Sozialstaates nicht zu erklären vermag, lässt sich Rosanvallon hier auf eine Nacherzählung der Sozialversicherungsgesetzgebung in chronologischer Folge ein, die eher enttäuschend ist und hinter dem heutigen Forschungsstand zurückbleibt. Offen bleibt auch die Frage nach der Rolle Vichys, jenes französischen Staates, den Rosanvallon in seinem ganzen Buch nur ein einziges Mal en passant erwähnt. Erst die grundsätzlichen Überlegungen zum Gesetz von 1946 über die Sécurité sociale und über die Krise des Wohlfahrtsstaates führen wieder zu prägnanten Thesen über das Verhältnis der "Versicherungsgesellschaft" zum "Vorsorgestaat".

Überzeugend argumentiert auch das vierten Kapitel über die staatliche Steuerung der Volkswirtschaft, das viele Fäden aus den vorangegangenen Kapiteln wieder aufnimmt. Insbesondere Rosanvallons Kritik einer Historiographie, die das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert mit den nicht näher definierten Begriffen von Interventionismus und Liberalismus erfassen will, erweist sich als außerordentlich produktiv. Mit der Figur des "Etat conservateur-propulsif" demonstriert er sehr klar, dass alles die Wirtschaft betreffende Handeln des Staates im 19. Jahrhundert, sei es die Abschaffung von Zöllen oder die Errichtung von Zollschranken, letzlich dem allgemeinen Ziel des Erhalts der sozialen Ordnung diente. Erst der keynesianischen Staat begreift Preisstabilität und Vollbeschäftigung als Ziele staatlicher Politik und nicht mehr als Ergebnis des freien Spiels der Kräfte am Markt und damit sich selbst als zentrale Steuerungsinstanz der Wirtschaft. Die keynesianische Wirtschaftspolitik kennzeichnet nach dem II. Weltkrieg alle Länder Westeuropas. Frankreich unterscheidet sich von seinen Nachbarn weiterhin darin, dass der Staat als Erzieher, und zwar diesmal der Wirtschaft, zu Produktivität und Effizienz auftritt, eine Rolle, die die politischen Eliten durchaus mit dem der französischen politischen Kultur eigenen Antikapitalismus verbinden. Hier zeigt sich noch einmal die analytische Schärfe und stilistische Brillanz des Autors, die "L’Etat en France" zu einem Lesevergnügen machen.

Wer dieses Vergnügen genießen möchte, wird freilich weiterhin zum französischen Original greifen müssen. Denn der Versuch des Verlages, seine Reihe zu Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft um eine Übersetzung aus dem Französischen zu ergänzen, ist gründlich gescheitert. Er scheiterte aber nicht nur an dem Unvermögen der Übersetzerinnen, komplexere Satzstrukturen und Fachtermini ins Deutsche zu übertragen, sondern in erste Linie an mangelnder Sorgfalt, die sich von der ersten bis zur letzten Seite in haarsträubenden Übersetzungsfehlern und Schlampereien jeder Art niederschlägt. Das reicht vom Titel auf dem Umschlag, der mit dem auf dem Deckblatt nicht identisch ist, über einen Absatz in der Einleitung, für den dem Leser zwei verschiedene, gleichermaßen unverständliche Übersetzungen zur freien Auswahl angeboten werden, bis zur doppelt vergebenen Fußnote 10, die alle folgenden Anmerkungen verrutschen lässt und ein Koselleck-Zitat Finanzminister Necker zuschreibt. Dass "assistance" mit "Armenpflege" zu übersetzen ist, ist den Übersetzerinnen genauso wenig bekannt wie die im Deutschen durchaus gebräuchlichen Grundbegriffe der keynesianischen Theorie. Dass "liberté d’association" nicht "Versammlungsfreiheit", sondern "Vereinigungsfreiheit" bedeutet, hätte sich sogar ohne Blick ins Wörterbuch herausfinden lassen. Wer aber "Monopol" mit "Marginalisierung" übersetzt (sic! S.134) und das Fehlen einer Debatte zur Atomenergie mit dem Fehlen eines Diskurses verwechselt, dem kann auch ein Wörterbuch nicht helfen.

Sabine Rudischhauser, Wien





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