ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gisela Engel, Gisela Notz (Hrsg.), Sinneslust und Sinneswandel. Beiträge zu einer Geschichte der Sinnlichkeit, trafo verlag, Berlin 2001, 158 S., brosch, 26,8O DM.

Gisela Engel und Gisela Notz versammeln in dem von ihnen editierten Buch ein breites Spektrum verschiedenartigster Aspekte zur Thematik, welche im Rahmen einer gleichnamigen Konferenz im Sommer 2000 in Salecina/Schweiz vorgestellt und diskutiert wurden. Nach dem Anspruch der Herausgeberinnen soll mit diesem Band ein Beitrag für die noch zu schreibende Geschichte der Sinnlichkeit und der Sinne geleistet werden. Den Schwerpunkt legen sie hierbei auf die Untersuchung der Wandelbarkeit und der historischen Bedingtheit des dichotomisch angeordneten Begriffpaars Sinnlichkeit/Sinne versus Vernunft. Walter Benjamins 1936 erschiene Schrift "Das Kunstwerk im Zeitalter der Reproduzierbarkeit" zitierend ("Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt-, ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt") soll mit dieser Publikation ,an Reinhart Koselleck anknüpfend, vor allem die Entwicklung einer Geschichte der politischen Sinnlichkeit vorangetrieben werden. Hierbei wiederum sind es insbesondere die emanzipativen Aspekte von Sinneslust und Sinneswandel, die mit dieser interdisziplinären Textsammlung beleuchtet werden sollen.

Die Entscheidung zur Interdisziplinarität, welche immer die Gefahr der beliebigen Aneinanderreihung in sich birgt, erscheint gerade hier sinnvoll. Verschiedene Erlebnisformen von Sinnlichkeit, geprägt von ökonomischen Verhältnissen bis hin zu kulturellen Praktiken sowie die diversen methodischen Zugriffe auf so ein weites Feld können nicht eindimensional erfasst werden. Wenn überhaupt, können die vielen Aspekte der "[...] Wechselbeziehungen zwischen den Arbeitsweisen, Reisen, Tänzen, Kriegstechniken, Krankheiten, Liebesgewohnheiten und den sinnlichen wie gedanklichen Wahrnehmungsweisen, Vergesellschaftungsformen [...]" [ Zur Lippe, Rudolf. „Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance.„ Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 1988, S/9. ] in ihren Unterschieden und in ihren Gemeinsamkeiten nur mit einem interdisziplinären Zugriff beschrieben werden.

So versammelt dieser Band Beiträge, die von philosophischen Betrachtungen, Überlegungen zur Ästhetik, Psychoanalyse und Literaturtheorie bis zu geschichtswissenschaftlichen Texten über den Nationalsozialismus reichen. In ihrer Anordnung Disziplinen übergreifend, verbleiben die meisten Texte auf durchaus kenntnisreiche Weise meist in ihrem jeweiligen Spezialdiskurs gefangen. So schreibt Tobias Jorges über die Entwicklung des Begriffs der Ästhetik in Folge von Kants "Kritik der Urteilskraft". Ein traditionell geprägtes Verständnis von "Kunst und Schönem" soll hier mit einer Reflexion über Sinne/Sinneswahrnehmung verbunden werden. Für Jorges stellt sich hierbei unter anderem die Frage warum, einzelne Sinne nicht immer einer Kunstart zugeordnet werden können, so beispielsweise der Geschmackssinn. Die philosophisch interessanten Überlegungen zu Kant müssen sich jedoch fragen lassen, welchem und vor allem wessen Kunstbegriff folgen sie, auf welche Debatten - und hier nicht nur der Philosophie, sondern der Kunstkritik - bezieht sich Jorges, wenn er von dem Schönen, von der Kunst schreibt, als seien dies eindeutige, universelle und ahistorische Konzepte. Wie lässt sich in diesem konservativen, hochkulturellen Kunstverständnis (Symphonie/Ohr, Monet/Auge...) Konzeptkunst oder gar das Phänomen einer Kochklasse in der Frankfurter Kunstakademie Städel unterbringen? Ebenso aus einer philosophischen Perspektive schreibt Tobias Kromer über die Abwertung der Sinne in der Erkenntnistheorie und plädiert für die Rehabilitation der Sinnlichkeit. Leider ohne dabei auf die ideologiekritischen Überlegungen zur Tradition des reaktionären Gebrauchs des Begriffs Sinnlichkeit durch Uebelhart im letzten Beitrag des Buches einzugehen. Theoretisch an aktuelle Debatten anknüpfend und trotzdem ein Lesevergnügen, eine selten zu findende Kombination, hält der Text von Nina Zimnik "Sexualität und Politik. Zur Debatte um das masochistische Genießen", was er in der Überschrift verspricht. Diskutiert wird hier das Phänomen Masochismus, vor allem aus einer Deleuzeschen Perspektive in Verbindung mit der theoretischen und politischen Rezeption bzw. Verwerfung des Begriffs der "Perversion", des "perversen" Genießens.

Jenseits aller positivistischen Zuschreibungen untersuchen Gisela Notz und Martin Uebelhart das Konzept Sinnlichkeit ideologiekritisch. Beide situieren in ihren Texten den Begriff der Sinnlichkeit im Kontext von strukturellen, gesellschaftlich dominanten Gewaltverhältnissen wie Sexismus und Rassismus sowie innerhalb des politischen Systems der NS-Herrschaft und in ihrer Folge der BRD. Uebelhart weist in seinem Text "Über die Domestizierung von Natur, Weib und Ekstase: Zur Ideologisierung der Sinnlichkeit im Zusammenhang von Sexismus, Rassismus und Faschismus" den Begriff der Sinnlichkeit als Grundlage von anti-emanzipatorischem und egalitärem Denken aus. Das Konzept der Sinnlichkeit speist sich aus einem essenzialistischen Naturverständnis. Beides findet sich weit verbreitet in Vorstellungen über ein natürliches Geschlecht und/oder angeborene "Rassen"-Merkmale, zwei Elemente eines biologistischen Diskurses, der immer wieder gerne zur Legitimation bestehender Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse herangezogen wird. Von der Esoterik-Szene bis in die Mitte der Gesellschaft lässt sich diese reaktionäre Melange von Sinnlichkeit (Exotik)/Körper/Natur wiederfinden. Gerade auf Grund seiner transdisziplinären Perspektive, der historischen und zugleich auch aktuellen Bezugnahme auf das wandelbare Konzept von Sinnlichkeit im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse, ist dieser Text ein Gewinn für diesen Sammelband. Uebelharts versierter und politisch engagierter Text schließt an den nicht weniger interessanten Text von Gisela Notz an, die "Vom Hin-weg-sehen und Hin-weg-hören. Von Menschen, die ihre fünf Sinne beieinander hatten" berichtet. Unabhängig von Ort und Zeit ließe sich eine "Unmündigkeit im Gebrauch der eigenen Sinne" beobachten, quasi eine "machtgestützte Sinnenblindheit" wie Oskar Negt es nennt. Notz interessieren hier jedoch weniger die unterworfenen Subjekte, die "(ge)horchen statt hinzuhören und hinzuschauen", sondern vielmehr Menschen, konkret Jeanette Wolff und Alma Kettig - Jüdin die eine, Sozialistinnen beide -, die in der NS-Zeit und in der neu gegründeten BRD ein unangepasstes, aktiv politisches Leben lebten. Dabei versteht es die Autorin, jeglichem Versuch mittelst eines biologistisch fundierten Moralbegriffs das Weibliche zum Guten, sprich Widerständischen, per se zu erklären, zuvorzukommen. Gerade durch ihre knappe und trotzdem umfassende Darstellung der deutschen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, Stichworte seien hier "Stunde null" sowie Kollektivschulddebatte, situiert sie die biografiegeschichtlichen Berichte über zwei Frauen in dem gesellschaftlichen Spannungsverhältnis privat/politisch und macht sie uns damit jenseits aller entpolitisierenden Anekdotenhaftigkeit greifbar. Notz schafft es, die von ihr dargestellten Personen als Subjekte mit individuellen Geschichten, Erfahrungen und Entscheidungen vorzustellen und sie zugleich als historische Beispiele, ja Vorbilder, für die von der Autorin eingeforderte politische Einmischung "gegen zunehmende soziale und geschlechterspezifische Ungleichheiten, gegen wieder auftauchenden Faschismus, Rassismus und Sexismus und gegen die Diskriminierung anderer und Fremder" wirksam zu machen. Es sind diese leidenschaftlichen Artikel, die akademisches Analysieren und politisches Engagement zu verbinden wissen und diesem Sammelband als Mosaikstein in der Geschichte der politischen Sinnlichkeit, Farbe und Intensität verleihen - ein gelungenes Anliegen, das heute selten realisiert wird.

Antje Schuhmann, München





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