ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Corinna Kuhr-Korolev/ Stefan Plaggenborg/ Monica Wellmann (Hrsg.), Sowjetjugend 1917 – 1941. Generation zwischen Revolution und Resignation, Klartext-Verlag, Essen 2001, 312 S., brosch., 44 DM.

In seiner Habilitationsschrift, die 1996 unter dem Titel Revolutionskultur erschien, untersuchte Stefan Plaggenborg Menschenbilder und kulturelle Praxis in der frühen Sowjetunion. Auf Grund seiner Erkenntnisse plädierte er dafür, den Begriff Stalinismus schon für die Zeit vor dem großen Umbruch 1929, der einschneidende Veränderungen im Wirtschaftssystem markierte, zu verwenden. Als Begründung führte er an, dass auf dem Gebiet der Kultur in den Zwanzigerjahren die Muster der späteren stalinistischen Zeit bereits ausgebildet waren. Auch das sich der Arbeit anschließende Forschungsprojekt "Jugend und Gewalt in Sowjetrussland 1917 bis 1932", das er zusammen mit seinem Baseler Kollegen Heiko Haumann initiierte, beschäftigt sich mit einem spezifischen Menschenbild und seiner Wirklichkeit, dem der sowjetischen Jugend. Und auch hier war das Interesse am Stalinismus eines der bewegenden Motive für die Themenwahl. Mit ihrem Forschungsprojekt wollten die beiden Osteuropahistoriker der Ursache der Gewaltbereitschaft einer ganzen Generation nachgehen. Sie stellten sich die Frage, inwieweit der Erste Weltkrieg und der durch die Oktoberrevolution ausgelöste Bürgerkrieg in Sowjetrussland die heranwachsende Generation, die in den Jahren des Großen Terrors 1936 bis 1938 den aktivsten Teil der Gesellschaft verkörperte, beeinflusst haben. Gleichzeitig füllt das Projekt aber auch eine große Forschungslücke, denn Untersuchungen über die sowjetische Jugend in der Frühzeit des Staates gibt es zumindest im deutschsprachigen Raum so gut wie keine.

Der vorliegende Sammelband ist aus einer Konferenz hervorgegangen, auf der die Projektmitarbeiter (Viktor Isaev, Corinna Kuhr-Korolev, Vera Spiertz, Daniela Tschudi, Monica Wellmann) erste Ergebnisse ihrer Forschungen vorstellten. Einige auswärtige Wissenschaftler aus Frankreich, Russland und Nordamerika, die sich ebenfalls mit Jugendfragen beschäftigen, wurden hinzugezogen. Gewalt wird in dem Band nicht nur als Kriminalität, sondern auch als "Rowdytum, vandalistische Handlungen, physische Gewalt gegen Sachen und Personen sowie verschiedene Arten des Zwanges" verstanden (S. 287). Demgemäß sind die Aufsätze auch ganz unterschiedlichen Formen der Gewalt gewidmet. Sie handeln von Selbstmördern (Monica Wellmann, Vera Spiertz), von dem Enthusiasmus junger Kommunisten und ihrer Enttäuschung (Isabel Tirado), von religiösen Jugendlichen und ihrer Verfolgung (Michail Skarovskij), von Hooligans (Anne E. Gorsuch) oder von einer repressiven Sexualmoral (Corinna Kuhr-Korolev). Einige regionalgeschichtliche Studien untermauern den Trend in der osteuropäischen Geschichte die diversen Regionen stärker zu berücksichtigen (Viktor Isaev, Daniela Tschudi, Aleksandr Rozkov). Es überwiegen Untersuchungen über die Zwanzigerjahre. Lediglich bei den allgemeineren Beiträgen werden die Dreißigerjahre mitberücksichtigt (Gabor T. Rittersporn, Sergej Zuravlev). Kennzeichen der meisten Beiträge ist, dass sie aus einem reichen Quellenfundus schöpfen. Insbesondere wurden solche Archivalien berücksichtigt, die bisher der Forschung verschlossen waren: Briefe von Jugendlichen an regionale Zeitungen beispielsweise, vor allem aber Berichte des sowjetischen Geheimdienstes NKVD, der Partei und des Jugendverbandes über die Stimmung der Bevölkerung, über "eigensinniges, politisch und gesellschaftlich nicht konformes Verhalten" (S. 20). Dies ist ein bewusst einseitiger Blick, durch den, wie Corinna Kuhr-Korolev in ihrer Einleitung betont, viel Neues zu Tage gefördert wird.

Im Mittelpunkt vieler Beiträge steht der Begriff der Lebenswelt, den Haumann in seinem überblicksartigen Artikel näher erläutert. Mit Lebenswelt bezeichnet er die Wechselwirkung der materiellen und ideellen Welt – Natur und Gesellschaft – und dem Einzelnen. Der Begriff beschreibt die Schnittstelle des Individuums mit seinen Gefühlen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen und der Struktur seines Umfeldes (S. 38f.). Besonders überzeugend ist die Darstellung der Lebenswelt der Jugendlichen deshalb auch da, wo sie sich auf ein Individuum beschränkt. Daniela Tschudi rekonstruiert in ihrem Beitrag die Monate Dezember 1918 bis September 1919 im Leben des 21-Jährigen Roman Murin aus dem Gebiet Smolensk. In seiner Funktion als Milizionär gebrauchte er zweimal eine Peitsche und wurde daraufhin bei seinen Vorgesetzten angezeigt. Tschudi kann anhand der Gerichtsakten, aber auch mithilfe weiterer Quellen und Literatur einfühlsam die Spirale von Gewalt und Gegengewalt in der Lebenswelt dieses jungen Sowjetbürgers aufzeigen. Es war das Pech des die herrschende Macht repräsentierenden Murins, dass im Februar 1919 ein Zirkular der Hauptverwaltung der sowjetischen Arbeiter- und Bauernmiliz Missstände in der Amtsführung von Milizionären geißelte. Tschudi argumentiert, dass auf Grund dieser Verfügung die Gewaltanwendung des Bolschewik nicht ignoriert, sondern geahndet wurde. Das Urteil gegen Murin schrieb die Gewaltgeschichte fort: Durch eine einjährige Bewährungsfrist an einer der Fronten des Bürgerkriegs hatte er die Möglichkeit, auf das verhängte Todesurteil einzuwirken.

Einen Gegensatz zu diesem Glanzstück mikrohistorischer Spurensuche stellt der Beitrag von Skarovskij über religiöse Jugendliche dar. Der Autor untersucht den Anteil junger Menschen in orthodox-kirchlichen Vereinigungen. Er unterscheidet die Zwanzigerjahre, in denen die orthodoxe Kirche noch legal oder halb legal tätig sein konnte, von den Dreißigerjahren, als jegliches kirchliches Leben sich um Untergrund abspielte. Seine detailgenauen Schilderungen über die Arbeit von Bruderschaften und die verschiedenen Stadien der Verfolgung durch die staatlichen Organe hinterlassen beim Lesen den Eindruck, als ob die Religion im Leben sowjetischer Jugendlicher einen großen Raum einnahm. Dies evoziert er auch durch seine Feststellung, dass sich laut der Volkszählung von 1937 Ende der Dreißigerjahre 43 % der Jugendlichen (mehr als 17 Millionen) als gläubig bezeichneten. Andererseits behauptet er gleich anschließend, dass die große Masse der Jugend gegenüber der Religion völlig gleichgültig gewesen sei (S. 245). Dies zeigt, wie unbrauchbar solche generalisierenden Aussagen bei der Annäherung an die historische Wirklichkeit sind.

Plaggenborg beschreibt in seinen abschließenden Überlegungen unter anderem als sowjetische Besonderheit der Zwanzigerjahre, dass der Generationenkonflikt politisiert und kriminalisiert und damit Jugenddevianz als sozialgefährliche Abweichung erklärt wurde. Dies sei ein Charakteristikum der Dreißigerjahre und somit ein weiterer Beleg für den Stalinismus avant la lettre (S. 304). Außerdem konstatiert er, dass die Geschichte der Jugend in Sowjetrussland neu geschrieben werden muss. Sie wird "mehr und mehr zu einer Geschichte der sozialen und psychischen Verwahrlosung, der Frustration, der Selbstmorde, der Verzweiflung, der seelischen Not, der Disziplinierung und Einflussnahme durch das Regime und der opponierenden Reaktion darauf" (S. 288). Aus den vorliegenden Untersuchungen allein, die sich thematisch und bezüglich der Quellen mit Bedacht begrenzten, kann man eine solche Verallgemeinerung nicht ableiten. Unbestreitbar ist es aber, dass die Beiträge eine bisher so nicht bekannte Wirklichkeit über das Leben sowjetischer Jugendlicher entwerfen. Dies ist das große Verdienst dieses sorgfältig redigierten und durchweg lesenswerten Bandes.

Carola Tischler, Berlin





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Januar 2002