ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Heike Kahlert/ Claudia Lenz (Hrsg.), Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt, Ulrike Helmer Verlag, Königstein/ Taunus 2001, 337 S., brosch., 48 DM.

Kaum eine klassische politische Theorie hat im vergangenen Jahrzehnt eine so ausführliche, kontroverse und wortreiche Aufmerksamkeit erhalten wie die politische Theorie Hannah Arendts. Dies gilt keineswegs nur für den demokratietheoretischen main stream, in dem Arendt-Zitate fast schon zum guten Ton gehören - dies gilt in ähnlicher Weise auch für die feministische Theorie. Da die Theoriegeschichte so wenige "weibliche Klassiker" kennt, ist es kaum verwunderlich, dass feministische Gesellschaftstheoretikerinnen bei Arendt, selbst des Feminismus gänzlich unverdächtig, Anregungen für die eigenen Arbeiten suchen. Arendts Distanz zu frauenpolitischen Anliegen kann aus feministischer Perspektive gerade als besondere Herausforderung wirken, politiktheoretische Überlegungen und Konzepte zu erproben und zu schärfen.

Einem solch ambitionierten Vorhaben haben sich auch die beiden Herausgeberinnen der "Neubestimmung des Politischen" verpflichtet, die ihren Autorinnen die Aufgabe stellten, sich "dialogisch" auf Arendts politische Theorie zu beziehen. Dass Heike Kahlert und Claudia Lenz allerdings gleich eingangs behaupten, dass das "gesellschaftstheoretische Potenzial von Arendts Werk aus feministischer Perspektive bisher kaum ausgelotet ist" (S. 7), kann angesichts der seit Jahren nicht abflauenden Arendt-Konjunktur nur verblüffen. Auch die einleitenden Bemühungen der Herausgeberinnen, nachzuweisen, dass Arendt gleichsam für alle akuten politischen und politiktheoretischen Fragestellungen (von der Globalisierung bis zur Individualisierung) unmittelbar brauchbar ist, verstellt eher den Blick auf Arendts Werk statt ihn zu erhellen. Die Reproduktion der zurzeit gängigen Haltung von der Allzuständigkeit der Arendtschen Theorie wäre nicht nötig gewesen um die Bedeutung dieses Bandes zu unterstreichen.

Entsprechend glänzen vor allem diejenigen Aufsätze der Edition, die sich gewissermaßen in analytischer Bescheidenheit üben und/oder den dominanten feministischen Arendt-Interpretationen (Bonnie Honig, Seyla Benhabib) schlicht nicht folgen oder sorgfältig argumentierenden Widerstand formulieren. Letzteres gilt in besonderer Weise für den Aufsatz von Tuija Pulkkinen, die die skeptische Frage stellt, ob die postmodernen feministischen Lesarten von Arendt im Werk selbst wirklich nachweisbar sind. Pulkkinen kann zeigen, dass trotz vorhandener Anhaltspunkte für Kontingenz und Performativität in Arendts Auffassung von Identität vor allem starke Essenzen/Essenzialismen einer klassisch modernen Auffassung (Wesensbestimmungen, Neuanfänge, Fundamente) vorhanden sind. Pulkkinen bleibt allerdings vorsichtig damit, sich zu deutlich gegen die Honig-Interpretation auszusprechen, traut ihren eigenen eindeutigen Befunden offensichtlich nicht genügend Evidenz gegen die postmoderne Arendt-Interpretation zu.

In deren ausgetretenen und wenig Arendtischen Pfaden bewegt sich Sabine Hark in altbekannter Manier. Die politiktheoretisch informierte Leserin muss sich fragen, ob solche Interpretationen überhaupt noch etwas mit Arendt selbst zu tun haben oder ob Arendt hier nicht nur als Sprungbrett für den eigenen Blick auf die Welt benutzt wird. Unbekümmert werden an den nicht ins Bild passenden Stellen "Arendts Prämissen ... korrigiert" (S. 95). Eine vergleichbar wenig "dialogisch" zu nennende Lesweise praktizieren auch Christina Thürmer-Rohr und - geradezu extrem - Andrea Günter, die ihre eigenen Überlegungen mit ein paar mehr oder weniger passenden Arendt-Zitaten adeln und diese bestenfalls als Stichworte/ Aufhänger für das (bei Günter gänzlich unpassende) Eigene gebrauchen. Von einer sorgfältigen Auseinandersetzung ist ein derartiges Vorgehen weit entfernt.

Die Einzige, die im ersten Teil des Bandes (zu Differenzen und Identitäten) die von den Herausgeberinen gestellte Aufgabe - Zeitdiagnose auf dem Hintergrund einer elaborierten Arendt-Interpretation - wirklich löst, ist Sidonia Blättler mit ihrer Diskussion des Konzepts Pluralität bei Arendt. Blättlers ausgezeichnete Arendt-Rekonstruktion wird in einem zweiten Schritt nüchtern, kreativ und differenziert auf aktuelle feministische Streitfragen bezogen - ohne vorschnelle Antworten, ohne fertigen Blick auf die Welt.

Der zweite Teil (zur "Reformulierung moderner Leitideen") ist insgesamt gelungener als der erste, insbesondere die Arbeiten von Christina Schües und Heike Kahlert wären hier zu nennen. Schües’ Diskussion von Arendts an- und aufregendem Menschenrechtsskeptizismus und Kahlerts gelungene Wissenschaftskritik von und mit Arendt stellen Beispiele dafür dar, wie man sich das gesamte Buch gewünscht hätte: nahe und genau an/mit/gegen Arendt, Anregung und kritische Auseinandersetzung nicht scheuend. Denn aufs Ganze gesehen werden die Potenziale, die die Herausgeberinnen mit ihrem Interesse konturiert haben, von den Autorinnen nicht ausgeschöpft. Arendt wird sowohl über- als auch unterschätzt: Überschätzt immer dort, wo sie für alles Heutige analytisch herhalten muss, unterschätzt genau dort, wo über spezifische Hypothesen und originelle Gedanken, aber auch innere Widersprüche und Inkonsistenzen im Gesamtwerk mangels begrifflicher Anstrengung schnell hinweg gegangen wird. Statt sich auch einmal jenen brisanten und ja überhaupt nicht neuen Fragen zu widmen - Arendts Distanzierung vom Feminismus als Interessenpolitik, Arendts Distanzierung von sozialpolitischen Fragen als der Würde des Politischen unangemessen (und was der Merkwürdigkeiten im Werk Arendts noch reichlich mehr sind) - wird Arendt eine unkritische oder am Werk vorbei gehende Huldigung zuteil. In der Hälfte der Aufsätze fehlt der Dialog und die Autorinnen werden dieser kreativen Denkerin nicht gerecht. Arendt eignet sich weder als Zitatensammlung für die eigenen Konzepte noch als Retterin in allen akuten Menschheitsfragen, weder als Säulenheilige postmoderner Identität noch als Leitfigur einer Globalisierungskritik - und wenn die Autorinnen dies alles dennoch meinen, müssten sie es wenigstens besser belegen. Trotz des widersprüchlichen Gesamteindrucks ist der Band jedoch, wie fast alle Bücher des Helmer Verlages, eine empfehlenswerte Publikation.

Barbara Holland-Cunz, Gießen





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