ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerd-Rainer Horn, Emmanuel Gerard (Hrsg.), Left Catholicism. Catholics and Society in Western Europe at the Point of Liberation, 1943-1955, Leuven University Press, Leuven 2001, 319 S., brosch., 32,23 Euro.

Der Klappentext kündigt den Sammelband an als "ersten Versuch, den westeuropäischen ‚Linken Katholizismus‘ aus komparativer und transnationaler Perspektive zu analysieren". Damit lassen sich die Autoren auf ein diffiziles Unterfangen ein, weil es sich um einen Begriff für sehr verschiedenartige und daher schwer in einen systematischen Vergleich zu bringende Phänomene handelt. Seine Rechtfertigung und Klärung durchzieht daher den gesamten Band. Einleitend schlägt Gerd- Rainer Horn den Definitionsrahmen vor: Als "Linker Katholizismus" werden amorphe, dezentralisierte und weitgehend unkoordinierte "soziale Bewegungen" gefasst, die in den 40er- und 50er-Jahren auf eine spirituelle und soziale Transformation des Katholizismus drangen und dabei durch sozialistische und marxistische Ideen beeinflusst waren. Ihr Aufstieg und Niedergang vollzog sich in den Jahren 1943 -1955. Den ersten Nachkriegsjahren kommt als Aufbruchs- und Orientierungsphase der Akteure besondere Bedeutung zu. Viele waren während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgt worden und hatten sich im politischen Widerstand engagiert. Die persönlichen Erfahrung und die besondere historische Situation vor dem Einsetzen des Kalten Krieges bildeten den Nährboden für eine Bewegung, die sich international gleichzeitig ausprägte, deren Wirkungskraft aber nur von kurzer Dauer war und heftigen Widerstand des Vatikans, nationaler Kirchenleitungen ebenso wie katholischer Gewerkschaften und Parteien hervorrief. Es handelt sich um intellektuelle Zirkel und Gruppierungen junger, vorwiegend männlicher, urbaner Intellektueller. Durch rege Publikationstätigkeiten und die Gründungen linkskatholischer Zeitschriften wie die französische Esprit, die italienische Adesso und die deutschen Frankfurter Hefte, die in hohen Auflagen erschienen, hatten sie in ihrer Blütezeit hohe gesellschaftliche Ausstrahlungskraft. Die Zirkel waren nicht generationell festgelegt, wie anhand der Arbeiterpriesterbewegung deutlich wird. Oscar Cole-Arnal weist nach, dass einige Priester Anfang des Jahrhunderts geboren wurden während andere erst in den 20er-Jahren das Licht der Welt erblickten.

In den Einzelfallstudien zu Frankreich, Belgien, Italien und Westdeutschland wird ein Kaleidoskop linkskatholischer Ideen und Engagements entwickelt. Anhand der Biografien italienischer Arbeiterpriester und linker katholischer Publizisten rekonstruiert Giorgio Vecchio eine radikalen Praxis. Als ein Beispiel eines italienischen Arbeiterpriesters wird Pater Sirio Politi vorgestellt, der 1959 eine Stelle als Arbeiter in der Werft von Viareggio annahm. Drei Jahre später gab er die Stelle aufgrund massiven Drucks der Kirchenleitung auf, schloss sich einer Gemeinschaft von Priestern und Laien an und beteiligte sich an politischen Aktionen gegen Hunger, den Atomkrieg und für Kriegsdienstverweigerung. Ein anderes Beispiel stellt Pater Primo Mazzolari dar, der sich als bekennender Antifaschist 1944 dem Widerstand im Untergrund angeschlossen hatte. Er äußerte seine Nonkonformität in zahlreichen Veröffentlichungen zum Problem der Armut und gründete die Zeitschrift Adesso, die sich den Lebensbedingungen der Armen widmete und zur Verantwortlichkeit ihnen gegenüber aufrief.

Der Theologe und Publizist Walter Dirks, die "Schlüsselfigur des Linken Katholizismus in Nachkriegsdeutschland" hat sich - wie Theodor Steinbüchel, Jakob Kaiser und andere katholische Intellektuelle - bereits in der Weimarer Zeit mit den Werken von Karl Marx auseinander gesetzt. Die Frankfurter Hefte, die Dirks zusammen mit Eugen Kogon herausgegeben hat, standen in der Programmatik eines "Sozialismus aus christlicher Verantwortung". Sie sollten zu einer Annäherung von Arbeitern und Christen einerseits, Christentum und Sozialismus andererseits beitragen. In seinem Beitrag zeichnet Andreas Lienkamp Dirks‘ Leitgedanken nach. Dazu gehört das Konzept eines sozialistischen "Dritten Weges", der von der Vorstellung gespeist war, dass ein "radikaler Neubeginn" nach dem Sieg über den Nationalsozialismus möglich und nötig sei. Der "Dritte Weg" umfasste wirtschaftliche Demokratie, das Konzept von Kooperativen, Föderalismus und den Europagedanken. Verschiedene Versuche, darunter die von Walter Dirks, Eugen Kogon und Karl Heinz Knappstein, mit der Gründung der CDU eine linke christliche Partei zu schaffen, scheiterten Lienkamp zufolge an den "restaurativen Tendenzen", die sich nicht nur in der Partei, sondern auch in vielen politischen, wirtschaftlichen und alltäglichen Bereichen ausprägten. Demgegenüber ist einzuwenden, dass der Vorwurf des "restaurativen" Charakters der Zeit auch ein zeitgenössischer politischer Kampfbegriff ist, hinter dem sich Enttäuschung der linken Katholiken verbarg. Sein Erklärungswert ist mit großer Vorsicht zu behandeln, zumal sich die Forschung in einem Prozess der Neuinterpretation der lange Zeit als "restaurativ" charakterisierten 50er-Jahre befindet. Unklar bleibt, warum die Annäherungen zwischen Sozialdemokratie und linken Katholiken überhaupt keine Erwähnung im Beitrag finden.

Im Licht der Einzeluntersuchungen hält es Martin Conway im zusammenfassenden Beitrag für verführerisch, den Terminus "Linker Katholizismus" für die charakterisierten westeuropäischen Bewegungen aufzugeben. Erweist sich das Konzept als nicht tragfähig? Der auffällige Umstand, dass der Begriff in vielen Beiträgen in Anführungszeichen erscheint oder nur mit besonderer Vorsicht verwendet wird (Duriez, Delbreil, Vecchio) ist als Signal der Distanzierung zu werten. Conway entwindet sich dem Definitionsdilemma, indem er die Fragestellung verschiebt: Er erklärt Linken Katholizismus (ohne Anführungszeichen) zu einem gemeinsamen "champ d’action", das von verschiedenen radikalen katholischen Gruppen in den 40er-Jahren besiedelt wurde und fragt nach seiner Bedeutung innerhalb des westeuropäischen Katholizismus. In einer Zeit beschleunigten Aufstiegs der christdemokratischen Parteien und auf dem Höhepunkt des katholischen Einflusses in der europäischen Politik blieb der "Linke Katholizismus" Conway zufolge nur eine "historische Fußnote". Die Gründe hier findet er in dessen Strukturen: Die beteiligten Gruppen erreichten die Mehrheit der europäischen Katholiken nicht, die es "...in einer Zeit überwältigender Unsicherheit" vorzogen sich an den überkommenen Glaubenssätzen fest zu halten statt sich Forderungen nach radikalen Veränderungen anzuschließen. In dieser Perspektive soll das Scheitern linker Ansätze Aussagekraft über den Katholizismus als Ganzes gewinnen: Die Mehrheit der Katholiken seien durch den Krieg gegenüber den Gefahren, die radikale Kräfte auf der Rechten wie auf der Linken darstellten, sensibilisiert. Die leidvollen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit und die Unsicherheiten der Zukunft hätten dazu beigetragen, dass sich die Gläubigen an den zentralen Institutionen und Glaubenssätzen orientierten. Laienorganisationen hätten gegenüber den Diözesanbischöfen an Bedeutung verloren. Für den westdeutschen Fall ist dieser Befund nicht zutreffend. In den Westzonen kam es zu wichtigen Neu- und Wiedergründungen der katholischen Laienorganisationen, die mit dem Zusammenschluss im Zentralkomitee der deutschen Katholiken 1953 erheblichen Einfluss auf die staatliche Gesetzgebung und Politik nehmen konnten.

Die "Reklerikalisierung" des Katholizismus deutet Conway als Grund und Symptom der konservativen und defensiven Haltung, mit der viele Katholiken in die Nachkriegszeit eintraten. Insofern sei es auch kaum überraschend, dass der Tenor katholischer Politik nicht revolutionär sondern konservativ war. Die langfristige Veränderung der politischen Landschaft Westeuropas, die der Krieg mit sich brachte, war die Errichtung einer breiten mitte- rechts Koalition namens Christdemokratie, die bis in die 60er-Jahre hinein dominierte. Diese entwickelte sich von ursprünglich radikalen Ansätzen weg zu einer konservativen Bewegung. Conway löst die Vorstellung einer Dichotomie zwischen Linkskatholizismus und Christdemokratie auf, indem er die links-katholischen Bewegungen als wichtige Elemente intellektueller und politischer Trends deutet, die zur Herausbildung der Christdemokratischen Parteien beitrugen.

Die 10 Einzelstudien, darunter Beiträge zu der französischen Partei Mouvement Républicain Populaire (Jean-Claude Delbreil), zum Mouvement Populaire des Familles (Bruno Duriez), zu den "christlichen Progressiven" Frankreichs (Yvon Tranvouez), zum linkskatholischen Milieu in Belgien (Jean-Louis Jadoulle), zum italienischen Linkskatholizismus (Giorgio Vecchio, Antonio Parisella) und den Beziehungen zwischen den christlichen Gewerkschaften und dem Linken Katholizismus (Patrick Pasture) legen im internationalen Vergleich eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten offen. Der Erklärungswert der internationalen Perspektive für das Aufblühen und Scheitern linker Experimente in den verschiedenen westeuropäischen Ländern bleibe gering, stellt Peter van Kemseke selbstkritisch fest: Sie erläutere nicht die spezifischen- teils radikalen, teils moderaten- Ausprägungen der linkskatholischen Strömungen. Aus der Außenbetrachtung scheint die transnationale Perspektive aber durchaus zukunftsweisend, auch wenn die Parameter des Vergleichs zu präzisieren sind und in einzelnen Beiträgen Ideentransfers noch stärker hätten herausgearbeitet werden können.

Der Sammelband vereinigt interessante Geschichten linker Katholiken, aber daraus ergibt sich keine Geschichte eines "Linken Katholizismus". Darüber hinaus sind die Zirkel linker Katholiken als "soziale Bewegung" im Sinne der einschlägigen Definitionen (z.B. Joachim Raschke) nicht zutreffend bestimmt. Besser wäre es vielleicht, von sozialen Ideen und Akteuren, die diese auf verschiedene Arten umzusetzen versuchten, zu sprechen. Als produktiv hat sich aber die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Konzept erwiesen. Die Stärke des Sammelbandes liegt deshalb in den Einzeluntersuchungen, welche die spezifischen Kontexte der Entstehung linkskatholischer Strömungen aus Besatzung und Widerstand rekonstruieren, die Bedeutung nationaler politischer Konfigurationen aufzeigen und die Ideen und das Engagement katholischer Akteure in den sozialen und politischen Handlungsfeldern situieren.

Sybille Buske, Freiburg/Br.





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