ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum "Transfer" der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen (=Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Band 94) , R. Oldenbourg Verlag, München 2001, 499 S., geb., 68 DM.

Der Autor der Arbeit, Detlef Brandes, ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Düsseldorf und leitet dort das Institut für Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa. Er hat zahlreiche Untersuchungen zur europäischen Politik in der Zeit des Zweiten Weltkrieges verfasst. Das Werk ist in der Reihe des Collegium Carolinum in München erschienen, das sich als legitimer Erbe des geisteswissenschaftlichen Teils der deutschen Karls-Universität in Prag betrachtet und sich in seinen zahlreichen Veröffentlichungen bisher vorwiegend mit der Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern beschäftigt hat.

Wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa beschäftigen sich vorwiegend mit der Vorgeschichte, bei der häufig die Frage nach der Loyalität bzw. Illoyalität nationaler Minderheiten im Vordergrund steht, mit der sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung der Heimatvertriebenen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands oder der SBZ oder mit dem Vorgang der Vertreibung selbst. Nur wenige dieser Arbeiten beschäftigten sich mit den politischen Planungen zur Vertreibung. Das hatte bislang verschiedene Gründe: Die Archive der Westalliierten waren wegen der langen Sperrfristen nur schwer zugänglich, die Archive des Ostblocks für westliche Historiker praktisch verschlossen und die Beschäftigung mit der Thematik galt in der Zeit der Entspannungspolitik nicht als opportun.

Der Autor definiert sein Anliegen so: "Mir geht es um eine Antwort auf die Frage, warum und wie es zur Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa gekommen ist, warum unzweifelhaft demokratische Politiker wie Benesch und Sikorski oder Mikolajczyk, warum nicht nur Stalin, sondern eben auch Churchill und Roosevelt, die Führer zweier westlicher Demokratien und die britischen, amerikanischen und sowjetischen Beamten und wissenschaftlichen Berater, warum sie alle die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, Polen und Ostdeutschland für unumgänglich hielten."

Während des Ersten Weltkrieges entwickelte der Schweizer Anthropologe Georges Montadon den Gedanken, die Zukunft in Europa gehöre den Nationalstaaten. Um den Frieden zu sichern, müssten sie ethnisch homogen sein, nationale Minderheiten seien ein unerträgliches Konfliktpotenzial, Nichtangehörige der jeweiligen Staatsnation müssten ausgesiedelt werden. Auf der Grundlage dieser Gedankengänge vereinbarten auf der Konferenz von Lausanne (1923) Griechenland und die Türkei einen Bevölkerungsaustausch. Zwischen den beiden Weltkriegen bestimmten diese Vorstellungen das außenpolitische Denken der zentraleuropäischen Diktaturen, aber auch der westlichen Demokratien. Großbritannien und Frankreich stimmten dem Münchener Abkommen zu, weil sie sich durch die Lösung des Minderheitenproblems in der Tschechoslowakei eine dauerhafte Friedenslösung erhofften. Im August 1939 bemühte sich die britische Regierung bei Deutschland und Polen um einen gegenseitigen Bevölkerungstransfer in Danzig und Oberschlesien, um den drohenden deutsch-polnischen Krieg zu verhindern. Durch zwischenstaatliche Verträge ermöglichte es Hitler dem italienischen Diktator Mussolini, einen Teil der deutschsprachigen Südtiroler auszusiedeln.

Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges war es zunächst die tschechoslowakische Exilregierung unter Eduard Benesch, die konkrete Pläne zur Vertreibung eines Teils der Sudetendeutschen entwickelte. Durch die Abtretung kleinerer tschechoslowakischer Gebietsteile an Deutschland (Egerland) einerseits, durch die Aussiedlung von etwas mehr als einer Million Deutschen andererseits sollte die deutsche Minderheit von dreieinhalb Millionen auf etwa 800000 reduziert werden. Durch rein tschechisch besiedelte Korridore sollten die verbleibenden Deutschen verwaltungsmäßig voneinander getrennt und politisch in drei "Kantone" mit einer gewissen Kulturautonomie, aber ohne jegliche politische Rechte, aufgegliedert werden. Anfangs plante Benesch auch die sudetendeutsche Emigration unter dem Sozialdemokraten Wenzel Jaksch an der Tätigkeit der Exilregierung und am späteren Aufbau der Nachkriegstschechoslowakei zu beteiligen. Der Autor würdigt in der vorliegenden Arbeit ausführlich die Tätigkeit der "Treuegemeinschaft der sudetendeutschen Sozialdemokraten" unter Wenzel Jaksch und ihre Bemühungen um eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Tschechen nach dem Kriege.

Bald verloren die ursprünglichen Pläne von Benesch jedoch an Bedeutung, denn die führende Widerstandsgruppe im "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren" unter der Bezeichnung "Narodni Odbor" ("Nationale Verteidigung") und die tschechoslowakische Auslandsarmee drängten auf die Vertreibung aller Sudetendeutschen. Benesch beugte sich diesem Druck und beendete im Laufe des Krieges die Zusammenarbeit mit der sudetendeutschen Emigration. Bei den Briten schwanden die Bedenken gegenüber der vorgeschlagenen Totalvertreibung der Sudetendeutschen mit der zunehmenden Härte des Krieges, insbesondere nach den deutschen Bombenangriffen auf Großbritannien und dem Bekanntwerden der deutschen Verbrechen an den Juden und an der Zivilbevölkerung der deutsch besetzten Gebiete. Der amerikanische Präsident Roosevelt hatte zwar noch 1942 Bedenken gegen die Vertreibung der Deutschen geäußert, ebenso eine Kommission des britischen Außenministeriums. Je mehr sich jedoch die militärische Frontlage im Osten zu Gunsten der Sowjetunion besserte, desto mehr konnte sich Benesch der Unterstützung Stalins gewiss sein und als sich britische Politiker noch 1943 ablehnend verhielten, erklärte Benesch, dass man diese Pläne eben mithilfe Moskaus realisieren werde.

Die polnische Exilregierung hatte 1942 den Amerikanern und Briten eine Denkschrift mit ihren Forderungen nach deutschen Gebieten und diese mit dem Anspruch auf Kriegsentschädigung gegenüber Deutschland, dem Wunsch nach einem gesicherten Zugang zur Ostsee und nach einer militärisch sicheren Grenze zu Deutschland begründet. "Historische" Argumente, wie sie etwa vom polnischen Westmarkenverein schon während der Weimarer Republik eine polnische Westgrenze an Oder und Lausitzer Neiße gefordert worden waren, spielten eine untergeordnete Rolle. Jedoch lehnte die gesamte polnische Exilregierung die Forderung nach einer polnischen Westgrenze an der Lausitzer Neiße einmütig ab, da sie es für unrealistisch hielt, 9 Millionen Deutsche auszusiedeln und die polnischen Gebietsansprüche gegenüber der Sowjetunion nicht gefährden wollte. Gefordert wurden also nur Ostpreußen, Danzig und das Oppelner Schlesien. Als Benesch 1943 Stalin in Moskau besuchte, teilte ihm dieser seine Vorstellungen über die zukünftigen sowjetischen und polnischen Westgrenzen mit. Danach wollte Stalin die durch den Hitler-Stalinpakt an die Sowjetunion gelangten Gebiete behalten und die polnische Westgrenze bis an die Oder verschieben. Stettin und Swinemünde sollten an Polen fallen, das damit über die Odermündung verfügen würde. Benesch teilte diese Vorstellungen Stalins Churchill und der polnischen Exilregierung mit. Churchill, der keine Konfrontation unter den Alliierten wünschte, stimmte dem zu.

Ende 1944 legte das Foreign Office Research Department dem Foreign Office ein Gutachten zum Thema "Transfer of National Minorities" vor, das alle wichtigen Argumente der Westalliierten gegen die Vertreibung enthielt. Die Vertreibung würde die Probleme der Nachkriegszeit in Europa nur verschärfen, die beträchtlichen Gebietserweiterungen – vor allem für Polen – würden das Gebiet der alliierten Besatzungszonen und damit auch den Zugriff auf die wirtschaftlichen Ressourcen Deutschlands für Reparationen verringern. Die Abwanderung von Polen und Tschechen in die neu zu besiedelnden Gebiete würde auch in den Territorien mit bisher konstanter tschechischer und polnischer Bevölkerungsmehrheit zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen, für die dann seitens der Westmächte unnötige Hilfeleistungen erbracht werden müssten. Die Anwesenheit der Vertriebenen im Aufnahmestaat ( also im restlichen Deutschland) werde nach Beendigung der Besatzungszeit zur Forderung nach Grenzkorrekturen und damit zu neuen Gefahren für den internationalen Frieden führen. Schließlich wurde auch auf die humanitären Aspekte der Vertreibung eingegangen, auf die unvermeidlichen Leiden der Zwangsaussiedler. Es wurde auch auf das Argument der tschechischen und polnischen Exilregierungen eingegangen, die deutschen Minderheiten seien die "fünfte Kolonne" Adolf Hitlers gewesen. Zwar hätten sich Angehörige dieser Minderheiten tatsächlich der Spionage und Sabotage gegen die Tschechoslowakei und Polen schuldig gemacht, jedoch hätte dies im Rahmen der reichsdeutschen Aggression nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Hitler sei es nicht um das Schicksal der nationalen Minderheiten, sondern um einen gewaltigen Eroberungsfeldzug gegangen, und wenn man die Wurzeln des Nationalsozialismus in Deutschland beseitige, sei ein "Transfer" nicht nötig. Warnend wurde in dem Gutachten auch darauf hingewiesen, dass eine Massenvertreibung in Europa sich auch auf die Entkolonialisierung in Asien und Afrika als beispielgebend auswirken könnte, sodass damit verstärkte Probleme auf das Britische Empire zukommen würden. Schließlich wurde die Empfehlung ausgesprochen, im Falle eines unvermeidlichen "Transfers" diesen zeitlich so lange wie nur irgend möglich zu strecken und so human wie möglich zu gestalten. Allerdings spielten diese Argumente in den Planungen Churchills keine Rolle, der bei der Konferenz von Teheran 1943 bereits die Oder-Neiße-Grenze als zukünftige deutsche Ostgrenze anpeilte und den Sowjets auf der Konferenz von Jalta 1945 entsprechende Zusagen machte.

Diese Veröffentlichung reicht weit über den Rahmen der deutsch-polnischen bzw. deutsch-tschechischen Beziehungen hinaus, sie vermittelt auch Erkenntnisse zur Vorgeschichte der Vertreibung der Deutschen aus Jugoslawien, der Ungarn aus der Slowakei und zu den Planungen tschechischer Politiker zur Abtrennung der Lausitz von Deutschland. Jedem, der sich mit der Vorgeschichte der Grenzverschiebungen und Bevölkerungs-"Transfers" nach 1945 beschäftigt, sei diese Studie empfohlen. Sie ist das Ergebnis umfangreicher Recherchen in den Beständen britischer, amerikanischer, tschechoslowakischer, polnischer und jugoslawischer Archive und berücksichtigt natürlich auch sowjetisches bzw. russisches Quellenmaterial. Das Vorwort von Hans Lemberg, der als international anerkannter Experte für Nationalitätenfragen gilt und Mitglied der Deutsch-Tschechischen und der Deutsch-Slowakischen Historiker-Kommission ist, verleiht dem Werk besonderes Gewicht. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Personen- und Sachregister sowie ein topographisches Verzeichnis mit Konkordanz, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Herkunftsnachweis der verwendeten Landkarten lassen auch für den qualifizierten Fachwissenschaftler nahezu keine Wünsche offen. Besonders hervorzuheben ist, dass das Personenregister auch kurze biografische Angaben enthält .



Johann Frömel, Nürnberg





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