ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Monika Glettler/ Alena Mísková (Hrsg.), Prager Professoren 1938-1948. Zwischen Wissenschaft und Politik (=Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, Band 17), Klartext Verlag, Essen 2001, 682 S., brosch., 42,11 DM.

Im September 1938 wurde die Tschechoslowakei durch das "Münchener Abkommen" gezwungen, ihre überwiegend deutsch besiedelten Grenzgebiete an das benachbarte Deutschland abzutreten. Wenige Monate später annektiert der nationalsozialistische Staat auch das verbliebene Gebiet und erklärte es zum "Protektorat Böhmen und Mähren". Die Prager Universitäten – seit 1882 in eine tschechische und eine deutsche getrennt – waren vom gewaltsamen Ende der Tschechoslowakischen Republik auf höchst unterschiedliche Art betroffen: Während die tschechischen Hochschulen geschlossen und nach dem 17. November 1939, dem Tag der großen studentischen Demonstration, 1.200 ihrer Studenten in Konzentrationslager verschleppt wurden, ging die deutsche Universität Prag in Reichsverwaltung über und wurde – nach einer überaus raschen Nazifizierung – zur "Frontuniversität". Bei ihrem Ausbau in den folgenden Jahren griff man auch auf die Gebäude, die technische Ausstattung und die Bibliotheksbestände der tschechischen Karls-Universität zurück.

Die Entwicklung beider Universitäten in den Jahren zwischen der nationalsozialistischen Okkupation und der Machtübernahme durch die Kommunisten in der Tschechoslowakei im Februar 1948 anhand einiger Biografien ihrer Professoren nachzuvollziehen, ist das Ziel des knapp siebenhundert Seiten umfassenden Sammelbandes, den die Freiburger Historikerin Monika Gletter und ihre Prager Kollegin Alena Mísková herausgegeben haben. Ausgehend von der Geschichte einzelner Persönlichkeiten sollte das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik in einem Jahrzehnt der Umbrüche untersucht werden. Dabei wird bewusst auf die Trennung von Tschechen und Deutschen, Nationalsozialisten und ihren Opfern, Mitläufern und ins (innere) Exil Getriebenen verzichtet.

Die Biografien von Professoren aus verschiedenen Fachrichtungen zeigen zum Teil diametral unterschiedliche Wege auf: Der Historiker Samuel Steinherz (Peter Arlt), dessen Wahl in das Rektorenamt bereits 1922 antisemitische Krawalle unter den Studenten ausgelöst hatte, starb im Dezember 1942 in Theresienstadt. Der Slavist und Volkskundler Edmund Schneeweis (Martin Zückert) vollzog die nationalsozialistische Umwandlung seines Faches in "Ostkunde" in verschiedenen Funktionen stillschweigend hinnehmend (S. 204) mit; als Professor in Rostock baute er nach dem Krieg die Slawistik in der DDR auf. Josef Pfitzner (Frank Hadler/Vojtech Sustek), ebenfalls Historiker, stellte seine Arbeit rückhaltlos in den Dienst der Nationalsozialisten. Er wurde kurz nach Kriegsende als verhasstes Symbol nationalsozialistischer Herrschaft in Prag hingerichtet.

In den einzelnen Biografien zeigen sich die besonderen politischen Implikationen bestimmter Fächer, etwa der tschechischen Germanistik (Alena Simecková/ Vojtech Jirát) oder der deutschen Slavistik oder der seit dem 19. Jahrhundert hochgradig politisierten und nationalisierten Geschichtsforschung, der deutschen Volkskunde, Rechtsgeschichte und nicht zuletzt der nach der Errichtung der NS-Herrschaft neu eingeführten Disziplinen wie der "Rassenkunde". Und es zeigen sich unterschiedlich große Spielräume in der wissenschaftlichen Arbeit wie im menschlichen Handeln unter den Bedingungen der Diktatur. Vor allem wird deutlich, wie unterschiedlich mit den jeweiligen Spielräumen umgegangen wurde. Allzu häufig wurden die Erwartungen der neuen Machthaber in vorauseilendem Gehorsam sogar übererfüllt. So stellte der Chemiker Johann Böhm (Dieter Hoffmann/ Václav Podaný) die absolute Ausnahme dar: Er verweigerte den Eintritt in die NSDAP und auch den "deutschen Gruß", entschuldigte sich bei den tschechischen Kollegen für die Okkupation des Landes und ermöglichte es einem von ihnen, Jaroslav Heyrovský, während des Krieges weiterzuarbeiten. Und er bestätigt insofern die Regel, als er nach 1945 beruflich nie wieder richtig Fuß fassen konnte. Eine Ausnahme war auch der Germanist Herbert Czysarz (Peter Becher). Nicht weil sich der seit 1938 in München Lehrende nach 1945 als "Antifaschist" stilisierte, sondern weil er immer wieder mit seinen Schriften aus der NS-Zeit konfrontiert wurde und seine Münchener Professur nicht zurückerhielt. Indessen machten viele einstige Prager Professoren nach 1945 in der Bundesrepublik ein zweites Mal Karriere. Die Verdrängung der eigenen Beteiligung am NS-Regime war – wie Hans-Peter Kunisch am Beispiel des Germanisten Erich Trunz zeigt – die Regel.

Solche Einsichten über "typische" und "untypische" Wege, über die Tendenzen innerhalb einer Fach- oder Forschungsrichtung, die dominierende politische Haltung der einzelnen Studenten- und Professorengenerationen und deren Wahrnehmungsmuster muss man sich im vorliegenden Sammelband jedoch im Wesentlichen selbst erlesen. Gerade für das breitere Publikum, an das sich das Buch ausdrücklich richtet (S. 10), dürften weder die etwas sprunghaft und nicht immer nachvollziehbar gegebenen Informationen über die allgemeine politische Geschichte noch die Ausführungen über die Entwicklung und Bedeutung der Prager Universitäten, die den Lebensbildern einleitend vorangestellt werden, zur Orientierung ausreichen. Zwar vermittelt der hervorragend geschriebene Beitrag von Alena Mísková über die deutschen Professoren, die nach dem "Münchener Abkommen" aus Angst vor Repressionen aus der so genannten "Rest-Tschechei" nach Deutschland oder Österreich flohen, einen tiefen Einblick in die politische und mentale Situation an der deutschen Universität. An dieser fast schon skurril anmutenden Begebenheit macht Misková deutlich, welche "Lager" es unter den deutschen Professoren vor 1938 gab, und skizziert danach bereits die Gründe für die übereilige Anpassung vieler von ihnen an die Wünsche und Vorgaben der bald einmarschierenden Nationalsozialisten.

Um knapp 30 Biografien zu einer Kollektivbiografie zusammenzubinden, bedürfte es jedoch des Versuchs einer übergreifenden Systematisierung und Kategorisierung. Zahlreiche Anregungen wie man dabei vorgehen könnte, enthält z.B. der Beitrag von Antonín Kostlán über die "Prager Professoren 1945-1950", also die Entwicklung der tschechischen Hochschulen zwischen der Befreiung im Mai 1945 und der Etablierung von Strukturen und Institutionen nach sowjetischem Vorbild im Wissenschaftsleben der Tschechoslowakei. Ohne einen solchen Rahmen bleiben die – überwiegend sehr sorgfältig aus Archivmaterialien erarbeiteten und gut geschriebenen – Einzelbiografien aber nahezu unvermittelt nebeneinander stehen, der personengeschichtliche Ansatz kann letztlich nicht überzeugen. Eine Synthese der Erkenntnisse aus den vorliegenden Biografien würde auch den Vergleich mit den anderen "Frontuniversitäten" Posen und Straßburg, den Universitäten im nationalsozialistischen Deutschland und auch dem Umgang mit den Professoren-Biografien nach 1945 erleichtern.

Eine letzte Bemerkung noch zur Auswahl der vorgestellten Lebenswege. Dem Vorwurf, dass wichtige Persönlichkeiten fehlen, hätte der vorliegende Sammelband gar nicht entgehen können – auch nicht bei doppeltem Umfang. Doch ist es sehr schade, dass ausgerechnet einigen der Protagonisten, die in zahlreichen Beträgen immer wieder genannt werden, keine eigenen Beiträge gewidmet wurden: So fehlen Franz Spina, eine der wichtigsten Persönlichkeiten der deutschen Slawistik wie des deutschen politischen Aktivismus in der Tschechoslowakei und der höchst umstrittene Historiker Eduard Winter. Es fehlt Hans Joachim Beyer, als Leiter der Reinhard-Heydrich-Stiftung eine zentrale Figur des nationalsozialistischen Wissenschaftsapparates und später in Flensburg Professor. Auch über Wilhelm Saure, den SS-Standartenführer und Agrarwissenschaftler, der 1940 zum neuen Rektor der deutschen Universität berufen wurde und dessen Pläne für eine neue "Ostforschung" letztlich an Beyer scheiterten, hätte man gerne mehr erfahren. Vor allem aber fehlen zahlreiche wichtige tschechische Professoren – vom Historiker Josef Susta, der sich, konfrontiert mit dem Vorwurf der Kollaboration, 1945 das Leben nahm, bis zum Literaturwissenschaftler Albert Prazak, der am Widerstand gegen die deutsche Okkupation beteiligt war und 1945 Vorsitzender des Tschechischen Nationalrates wurde. Und nicht zuletzt sind die jüdischen Professoren nicht entsprechend ihrer Bedeutung und ihres außerordentlich hohen numerischen Anteils an der Prager Professorenschaft berücksichtigt worden.

Trotz dieser Lücken liegt mit den "Prager Professoren" ein ausgesprochen lesenswerter Band vor. Die hier vorgestellten Biografien zeigen einerseits, "wie das ‚Dritte Reich‘ im besetzten Prag funktionierte" (Glettler, S. 20) – und zwar für die Sieger wie für die Verfolgten. Die parallele Betrachtung von deutscher und tschechischer Universität, die die meiste Zeit wie Inseln nebeneinander existierten, bietet darüber hinaus ein Stück Beziehungsgeschichte. Aber nicht nur das, denn der Blick auf die Nachkriegszeit macht klar, dass die Zerschlagung der Strukturen des tschechoslowakischen Staates (1938/39) – auch im Bildungs- und Wissenschaftsbereich – dazu beitrug, den Weg der Tschechoslowakei in den Stalinismus zu ebnen. Andererseits begegnet uns die Vergangenheit der Bundesrepublik: Zurecht verweist Glettler auf die skandalösen Deutungsmuster, mit denen die mehr oder weniger in die Machtstrukturen des NS-Staates involvierten Professoren nach dessen Ende ihre eigene Rolle und Tätigkeit darstellten: Nicht anders als ihre Kollegen aus dem Reich betonten sie, immer nur der "Sache gedient" zu haben (S. 21). Und das offensichtlich mit bestem Gewissen: So nahm der Jurist Wilhelm Weizsäcker (Joachim Bahlcke) die Tatsache, dass die Mitglieder der Reinhard-Heydrich-Stiftung fast alle ordentliche bundesdeutsche Lehrstühle innehatten, als stichhaltigen Beweis für das hohe wissenschaftliche Niveau und die politische Unabhängigkeit dieser Einrichtung. Das war im Jahr 1952.

Christiane Brenner, München





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