ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Joachim Lerchenmueller, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift "Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland" (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 21), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2001, 320 S., hard cover, 68 DM.

Die seit 1998 neu aufgeflammte Kontroverse um die NS-Vergangenheit ehemals führender Historiker der "alten" Bundesrepublik hat der Frage danach neue Dringlichkeit verschafft, an welcher Stelle, in welcher Funktion und mit welchen Konsequenzen denn überhaupt Historiker für das braune Regime tätig geworden sind. Die vorliegende Arbeit nimmt sich dieser Problematik bewusst im Hinblick auf die Zentrale des Verbrechens schlechthin, die SS, an. Sie untersucht im Anschluss an Lutz Hachmeister (1998) die Aktivität von Historikern, die haupt- oder nebenamtlich im Sicherheitsdienst des "Reichsführers SS" für die so genannte "wissenschaftliche Gegnerforschung" (S. 23ff.) zuständig waren, einem Kreis von ungefähr 20 Personen.

In einem ersten Teil werden die Entstehung und Inhalte einer zwischen November 1938 und Februar 1939 gefertigten, in einem Stasi-Archiv wieder gefundenen Denkschrift zur universitären Geschichtswissenschaft analysiert, die als kritische Bestandsaufnahme der Planung einer allmählichen Durchsetzung des Faches mit SS- bzw. SD-Historikern und der Ausbildung entsprechend "positiven" Nachwuchses (S. 219f.) dienen sollte. Dieses nur teilweise überlieferte Dokument (84 S.) ist zusammen mit insgesamt 13 weiteren Quellen im zweiten Teil des Bandes abgedruckt. Seine Lektüre macht wesentliche Elemente der SD-Einschätzung der "Historikerzunft" und von deren Verhältnissen deutlich. Zunächst bestätigt sich das hohe methodische Niveau, welches die Produkte der SS und ihrer Abteilungen als braune Elite auszeichnete: Sie setzte sich wesentlich keineswegs aus geistigem Mittelmaß, sondern akademisch gebildeten Intellektuellen zusammen, die ihr Geschäft mit mörderischer Präzision betrieben. Im disziplinhistorischen Teil wird ein in mancher Hinsicht nicht unkorrektes Bild der Herkunft und nationalgeschichtlichen Funktionalisierung der deutschen Historiographie seit Beginn des 19. Jahrhunderts entworfen, richtig auf die innere und äußere Bedeutung des Umbruches nach 1918 verwiesen und aus der nationalsozialistischen Perspektive konsequent die Erfordernis neuer Periodisierung der deutschen Geschichte und entsprechend neuer subdisziplinärer Gliederung des Faches abgeleitet. Merkwürdig liest sich das äußerst positive Urteil über Ranke (der "größte aller deutschen Geschichtsschreiber", S. 203).

Aus heutiger Perspektive freilich nur vordergründig als eher entlastend kann das Gesamturteil aufgefasst werden, dass nämlich die akademische Historikerzunft seit 1933 in ihrer Hauptströmung "bürgerlich nationalem Denken verhaftet" geblieben sei (S. 208) und "ein neues, wissenschaftlich voll fundiertes, nationalsozialistisches Geschichtsbild von allgemein gültigem Charakter" (S. 217) noch keineswegs hervorgebracht habe. In dieser Hinsicht als viel versprechend wird nur eine begrenzte Zahl namentlich genannter, vor allem jüngerer Historiker bewertet. In der Erörterung der Ursachen für die aus SD-Sicht bestehende Misere und der Mittel zu ihrer Überwindung wird auch zutreffend das Fortdauern der überkommenen Nachwuchsrekrutierungspraxis erwähnt ("Das traurigste Kapitel der Zeit nach 1933 aber besteht darin, dass diese Professoren sich ‚ihre‘ Leute als Assistenten und Mitarbeiter heraussuchen", S. 212). Die Einschätzung der katholischen Historie als besonders NS-feindlich (vgl. die Anmerkung zu Clemens Bauer S. 223: "ultramontan, gefährlich, da kluger Kopf") unterstreicht einen Sachverhalt, der in der aktuellen historiographiegeschichtlichen Forschung noch deutlicherer Profilierung bedarf. Offenbar führte der SD auch eine auf Vollständigkeit angelegte Historikerkartei, die allerdings bisher nicht aufgefunden werden konnte (S. 22 u.ö.). Einen Einblick in die (in sich durchaus widersprüchliche) SD-amtliche Auffassung der deutschen Geschichte vermittelt der Abdruck eines einschlägigen anonymen Manuskripts aus dem Jahr 1938 (S. 276f.).

Besondere Aufmerksamkeit gilt im Darstellungsteil dem Verfasser der Denkschrift, dem bei Günther Franz 1940 promovierten (Jena) und 1942 habilitierten (Straßburg) ehemaligen Gymnasiallehrer Hermann Löffler (1908-1978), der kurz vor der Kapitulation noch zum außerplanmäßigen Professor ernannt wurde, also unzweifelhaft auch sich selbst zum "positiven" Nachwuchs zählte bzw. als solcher eingeschätzt wurde. Lerchenmueller, der heute an der University of Limerick lehrt, kann anhand akribischer Quellenauswertung nicht nur erstmals genau rekonstruieren, auf welchem Wege der geborene Saarländer in seine einflussreiche SD-Position einrückte, sondern – und hier beginnt die zweite Herausforderung dieser bahnbrechenden Monographie – auch darlegen, wie dem hauptamtlichen SS-Sturmbannführer, aber 1951 als "Mitläufer" (S. 168) eingestuften Historiker nach dem Ende der Diktatur eine "zweite Karriere" gelang (S. 137-157). Über im bekannten Tenor geschriebene Auftragsstudien zur Saarlandfrage, vermittelt durch landsmannschaftliche und persönliche Beziehungen zu ehemaligen "Kameraden", gymnasialen Schuldienst, Lehrtätigkeit im Rahmen der Stuttgarter Volkshochschule und Mitarbeit an der Rezensionszeitschrift "Das historisch-politische Buch" des akademischen Mentors Franz sowie Gutachten von Franz und dem Gesinnungsgenossen Hellmuth Rössler gelangte er 1962 zu einer Professur für Neuere und Zeitgeschichte (!) an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, welches Amt er bis zur Pensionierung 1973 anscheinend mit großem Lehrerfolg ausübte. Dass auch zahlreiche andere ehemalige SD-Historiker wesentlich durch gegenseitige Unterstützung nach 1945 im Bildungs- und Verlagswesen wieder Fuß fassten, ohne in ihren Anschauungen und deren "wissenschaftlich"-publizistischen Umsetzungen von den einst vertretenen Perspektiven grundsätzlich abzufallen, verdeutlicht ein entsprechendes weiteres Kapitel.

Insgesamt acht Habilitationen und 17 Promotionen hatten im Rahmen der "dualen" Strategie des SD stattgefunden, die zögernde universitäre Geschichtswissenschaft mit Hilfe bewährter eigener Leute nationalsozialistisch zu "reformieren". Immerhin zwei der Habilitierten gelang es nach dem Mai 1945 Professuren zu erhalten. Den Nachkriegskarrieren zu Grunde lag ein spätestens seit der Studie von Ulrich Herbert zu Werner Best grundsätzlich bekanntes, in seinen Ausmaßen nach der vorliegenden Untersuchung jedoch noch unterschätztes Netzwerk ehemaliger NS-Aktivisten. Auf derartige Kontinuität insbesondere hebt zu Recht auch das Fazit dieser mit Porträts und Quellenfaksimiles eindrucksvoll illustrierten, trotz gelegentlicher stilistischer Schwächen faszinierend lesbaren, engagierten Erstlingsarbeit ab.

Wolfgang E. J. Weber, Augsburg





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