ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, Wilhelm Fink Verlag, München 2000, 260 S., kart., 38 DM / 19,43 EUR.

Friedrich Kittler hat seine Vorlesungsmanuskripte des Jahres 1998 nicht in die Schublade zurückgelegt, sondern sie dem Wilhelm Fink Verlag zur Publikation übergeben. Herausgekommen ist eine nachlässig edierte tour de force durch klassische Texte der Kulturphilosophie aus zweieinhalb Jahrhunderten. Kittler bekennt sich zur Klassiker-Lektüre und hat seinen Studierenden die seiner Meinung nach kanonischen Texte einer entstehenden Kulturwissenschaft vorgestellt – die nachholenden Leser sind dabei vor Überraschungen weitgehend sicher. Das Spektrum seiner Helden reicht u.a. von Vico über Herder, Volney und Hegel, die nachhegelianischen Empiriker Burckhardt, Bachofen und Hehn bis hin zu Nietzsche, Freud und schließlich – nicht zufällig als krönendem Abschluss – Heidegger. Eine Überblicksvorlesung muss in der Tat nicht unbedingt den Anspruch des Innovativen einlösen. Insofern lässt sich dieser Band schon vorab als in vielerlei Hinsicht aufschlussreicher Leitfaden für Berliner Studierende der Kulturwissenschaft charakterisieren. Doch zwei Dinge komplizieren die Situation: Erstens ist kaum eine Neuerscheinung aus den Kulturwissenschaften in den vergangenen Monaten so fleißig rezensiert worden wie die Kittlers, beinahe so, als handele es sich um einen genuinen Diskussionsbeitrag zur aktuellen Diskussion um kulturalistische Neuansätze. Und zweitens ist Kittlers kulturgeschichtlicher Kanon selbst einerseits fragwürdig und andererseits offensichtlich die implizite Formulierung eines wissenschaftspolitischen Programms. Darüber muss diskutiert werden.

Zunächst ist bei Kittler wenig Neues zu erfahren. Jeder der diskutierten Autoren wird mit einer Kurzbiografie vorgestellt und sodann in seinem Werk – meist ausschnittartig – charakterisiert. Das gelingt Kittler recht anschaulich, zumal auch die Randbedingungen der Theoriebildung mit ins Blickfeld geraten. Insgesamt aber bleibt der Gehalt von Kittlers Vorlesungen einfach nur im Rahmen dessen, was dem Genre entspricht: Derartige Vorlesungen hört man in deutschen Hörsälen häufiger und was an Inhalten vermittelt wird, gehört wohl mehr oder weniger zum Prüfungswissen fürs Examen im Bereich der Kulturphilosophie. Woher also die große Aufmerksamkeit? Kittler suggeriert Orientierung. Sein kulturgeschichtlicher Kanon ist "klassisch", er entlässt sein Publikum aus der Verantwortung, sich in den aktuellen (d.h. internationalen) Diskussionen um die Kulturwissenschaften zu positionieren. Nach der Lektüre von Herder, so Kittler, brauche man keinen "überschätzten amerikanischen Professor von heute" mehr um zu wissen, was eine dichte Beschreibung ist. So nützlich die Wiederentdeckung innovativer Elemente bei den "Alten" sein kann – wäre Kittler das auch ohne Clifford Geertz aufgefallen? Und wenn er z.B. den Gebrauch der Vokabel gender der amerikanischen Re-education nach 1945 zuschreibt, dann nimmt er schlicht nicht zur Kenntnis, dass die englischsprachige Diskussion in diesem Bereich der deutschsprachigen quantitativ und qualitativ eben weit voraus ist, und seine deutschtümelnde Vorlesung bewegt sich streckenweise in längst vergangenen Zeiten deutscher Gelehrten-Herrlichkeit.

Dazu passt Kittlers generelle und hoch konservative Abwehr aller Kooperationsmöglichkeiten der Kulturwissenschaften mit den Sozialwissenschaften. Was andernorts als selbstverständliche Maxime zukünftiger Theoriebildung akzeptiert ist, wird von Kittler nicht zur Kenntnis genommen und wer in seinen Vorlesungen nach Hinweisen auf den Stand oder wenigstens auf die Geschichte wissens- und kultursoziologischer Theorie sucht, wird enttäuscht. Vokabeln wie "Struktur" oder "System" sind für ihn offensichtlich irrelevant (es sei denn, es handelt sich um das idealistische System-Programm von 1795). Sein Feind ist jedweder wissenschaftlicher Begriff von Gesellschaft, "das totalitäre Korrelat einer totalitären Gesellschaftswissenschaft". Kulturwissenschaft als ausschließende Alternative zur Sozialwissenschaft propagieren zu wollen, das ist kaum hilfreich. Signifikant sind daher auch die Blindstellen des Kittlerschen Kanons: Die Kulturwissenschaft der Nachkriegszeit auf eine spätere Vorlesung (und einen späteren Abdruck?) zu verschieben ist legitim, aber auch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts finden sich Autoren, auf die eine moderne Kulturwissenschaft nicht verzichten sollte. Karl Lamprecht oder Norbert Elias, Aby Warburg oder selbst Max Weber sind Kittler keine Zeile wert und Ernst Cassirer nur die Bemerkung, dass er ihn "mit dem Schleier meiner Ignoranz und Verachtung bedecken werde." Überhaupt teilt Kittler zuweilen kämpferische Invektiven in einem Ton aus, der sich im akademischen Rahmen einfach nur peinlich ausnimmt, etwa wenn von Rousseau als dem "dümmsten und paranoischsten und folglich politisch folgenreichsten aller Aufklärer" oder von "Locke und anderen Flachköpfen" die Rede ist. Hier ist die Arroganz auf der Suche nach einer Pointe, vernachlässigt aber ihre eigenen Grundregeln der Subtilität und des Understatement. Gleichzeitig hat Kittler aber keine Probleme damit, einen Autor wie Viktor Hehn zu thematisieren, dessen rassistische Völkerpsychologie nur mühsam im Gewande einer Kulturanthropologie daherkommt. Hehns Slawenhass ist Kittler keine kritische Anmerkung wert und dessen "schiefblickende Tartaren und Schakale" kommen auch schon einmal ohne Anführungszeichen aus.

Kittlers Vorlesungen gipfeln schließlich in einer sentimentalen "bedingungslosen Liebeserklärung" für Martin Heidegger. So nachdenkenswert dessen Bemerkungen zur Technik sind, so problematisch bleibt es weiterhin, mit der Kategorie des "Unverborgenen" den öffentlichen Diskurs als "Meinungsherrichtung" zu denunzieren und die historisch unterschiedlichen Charakteristika menschlicher Zivilisationstätigkeit als jenseits "menschlicher Gemächte" zu metaphysizieren. Das Geraune aus dem Schwarzwald ist eben kein Realismus und es taugt sicher nicht für eine kritische und analytische Perspektive der Kulturwissenschaften auf Phänomene symbolischer Praktiken oder der kommunikativen Globalisierung - allenfalls für einen achselzuckenden Fatalismus der 1945 gegen ihren Willen Befreiten. Eine diskutable Konkurrenz zu den Cultural Studies, denen Kittler den Kampf ansagt, oder zu einer umsichtigen Synthese von Kultur- und Sozialwissenschaften – etwa in Form der Wissenssoziologie oder der Diskursanalyse - ist hier nicht auszumachen.

Ein Wort noch zum Vorlesungsduktus der Kittlerschen Vorlesungen: Es mag ein ehrenwerter Anspruch sein, den Ton des gesprochenen Vortrags in der publizierten Form erhalten zu wollen. Das ermöglicht allerdings auch viel sagende Einblicke in alltägliche Deutungsnormen deutscher Hochschullehrer, etwa wenn Kittler vor seinen Studierenden die Arbeit von Gleichstellungsbeauftragten mit dem "Wahnsinn" der Helene Druskowitz gleichsetzt. Außerdem sind nicht einmal die allzu zahlreichen Druckfehler beseitigt oder die Redundanzen der einleitenden Wiederholungen des zuvor besprochenen Stoffs zu Beginn jeder Vorlesungsstunde gestrichen worden. Das ist ärgerlich und mühsam zu lesen. Konsequenterweise hätte Kittler noch die Reaktionen seiner Studierenden ("Gelächter") mitstenografieren lassen sollen. Vielleicht hätte ihn das auch ein wenig für sein beredtes Bedauern entschädigt, nicht in Hegels altem Hörsaal Nummer 6 lesen zu können. Dessen Vorlesungen wurden – wie auch Kittler zu erzählen sich nicht verkneifen kann - posthum vom "Verein der Freunde des Verewigten" herausgegeben. Kittler publiziert vorsorglich selbst.

Aribert Reimann, Köln





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