ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Tilde Bayer, Minderheit im städtischen Raum. Sozialgeschichte der Juden in Mannheim während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (=Quellen und Darstellungen zur Mannheimer Stadtgeschichte, hrsg. vom Stadtarchiv Mannheim, Band 6), Thorbecke Verlag, Stuttgart 2001, 226 S., brosch., 39,90 DM.

Das von Frau Bayer vorgelegte Buch, hervorgegangen aus einer bei Wolfgang von Hippel entstandenen Dissertation, ist ein gewichtiger Beitrag zu der in den letzten Jahren intensiv betriebenen Forschung auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen die Lebensverhältnisse der jüdischen Minderheit in Mannheim und ihre politisch-sozialen Beziehungen zur christlichen Umwelt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet eine quantifizierende Analyse der Lebensverhältnisse der Mannheimer Juden. Hierzu wurden die aus dem Jahre 1836 zur Verfügung stehenden Daten über alle ortsansässigen selbstständigen Haushalte ausgewertet. Die von Tilde Bayer vorgelegten Zahlen über Familienstand, Altersstruktur, Berufstätigkeit und soziale Stellung der örtlichen Juden sind nicht nur für die Stadtgeschichte Mannheims aufschlussreich, sondern bereichern zugleich die allgemeine Forschung zur sozialen Situation deutscher Juden im Zeitalter der Emanzipation. Einerseits bestätigen die Mannheimer Zahlen - vor allem im Hinblick auf die Dominanz der Handelsberufe - bisherige Einschätzungen. Andererseits wird aber auch deutlich, dass die 6-7% der Mannheimer Gesamtbevölkerung umfassende jüdische Minderheit früher als die Juden anderer Städte von neuen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen erfasst wurde. So sind schon 1836 die meisten der 355 jüdischen Haushalte den mittleren und oberen sozialen Schichten der Stadt zuzuordnen. Die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung der südwestdeutschen Handelsmetropole förderte den sozialen Aufstieg der Juden in das Mannheimer Bürgertum. 1836 besaßen bereits 44,5% der jüdischen Haushaltsvorstände das Mannheimer Ortsbürgerrecht.

Wie sich der soziale Aufstieg der Minderheit im Bereich des Wohnens niederschlug, wird im zweiten großen Untersuchungsabschnitt anschaulich dargelegt. Zwar lässt sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eine minderheitenspezifische Konzentration auf bestimmte Wohngebiete und Häuser feststellen, Tilde Bayer kann aber durch detaillierte Aussagen über Ausstattung, Nutzung und Komfort jüdischer Wohnungen eine wachsende Annäherung an die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft nachweisen. Ebenso überzeugend werden die Entwicklungen im Bereich des Familienlebens analysiert. Die Verfasserin untersucht die jüdischen Eheschließungen, fragt nach der Bedeutung von Eheverträgen und jüdischen Heiratsstrategien, analysiert die demografischen Prozesse der Minderheit und widmet sich ausführlich den Fragen von Erziehung und Ausbildung jüdischer Knaben und Mädchen. Auch in all diesen Bereichen vollzogen sich innerhalb der jüdischen Minderheit Prozesse, die als Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft zu sehen sind. Dies galt besonders für den Bereich der Bildung, wo die jüdische Minderheit sowohl für Knaben als auch für Mädchen jene neuen Bildungsmöglichkeiten zielstrebig nutzte, die der Staat und die alte ständische wie konfessionelle Schranken durchbrechende bürgerliche Gesellschaft zur Verfügung stellten.

Auf der anderen Seite zeigt die Studie aber sehr eindrucksvoll, wie und wo sich die jüdische Lebensweise auch weiterhin von derjenigen der übrigen Stadtbevölkerung unterschied. "Konnubium, Sexualität, Familienplanung und Kinderaufzucht wiesen spezifische Charakteristika auf, die sich zum Teil erheblich von der christlichen Bevölkerung abhoben" (S. 173). Tradierte Heiratsmuster und -strategien blieben auch unter den neuen rechtlichen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen bestehen. Mischehen zwischen Juden und Christen waren in der ersten Jahrhunderthälfte ausgesprochen selten. Im letzten der vier großen Untersuchungsabschnitte widmet sich Tilde Bayer schließlich den Netzwerken, die die jüdische Minderheit in der Mannheimer Stadtgesellschaft zusammenhielten und zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen genutzt wurden. Deutlich wird auch in dieser Studie, welch entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang den Verwandtschaftsnetzen zufiel. Immer wichtiger wurde darüber hinaus auch das sich in Mannheim recht früh entwickelnde jüdische Vereinswesen. Die Vereinsidee wurde einerseits genutzt, um spezifische Interessen der jüdischen Minderheit zu vertreten, andererseits wirkte sie aber durch die Beteiligung von Juden an den überkonfessionellen Vereinen der Stadt schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch als Motor der Integration der Juden in die städtische Gesellschaft. Letzteres galt auch für die abschließend von der Verfasserin betrachtete jüdische Beteiligung an den politischen Auseinandersetzungen des Vormärz. Mannheimer Juden ging es hier nicht mehr nur um die rechtliche Stellung der Minderheit, vielmehr verstanden sie ihre spezifischen Forderungen immer stärker als Teil des allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Emanzipationsstrebens. Fest zu halten bleibt, dass die hier vorgelegte sozial- und kulturgeschichtliche Studie, die neben umfangreichen Statistiken auch eindrucksvolles Bildmaterial präsentiert, einen wichtigen Platz innerhalb der neueren Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte beanspruchen darf.

Hans-Werner Hahn, Jena





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