ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Fisch, Ulrike Haerendel (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland – Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat (=Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 141), Duncker & Humblot, Berlin 2000, 374 S., geb., 128 DM.

In der Debatte um die Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik Deutschland ist die Reform der Alterssicherung seit langem eines der zentralen Themen. Demographische Entwicklungen, tief greifende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wie auch von Haushalts- und Familienstrukturen und der Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen sind entscheidende Faktoren, auf die es bei der zukünftigen Gestaltung des Alterssicherungssystems zu reagieren gilt. Kontrovers diskutiert werden in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion hierbei die zentralen Fragen: Wie sollen die Weichen in der Alterssicherung gestellt werden – in Richtung Lebensstandardsicherung oder Armutsvermeidung, welche sozialen Umverteilungselemente soll das System enthalten, und in welchem Verhältnis sollen Sozial- und Privatversicherung in der Altersvorsorge stehen?

Der von Ulrike Haerendel und Stefan Fisch herausgegebene Sammelband nähert sich diesen Fragen sowohl aus historischer als auch aus systematischer Perspektive. Basierend auf den Vorträgen eines Forschungsseminars des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer im Jahr 1998 spannt sich der Bogen der Beiträge von historischen Analysen zur Entstehungsgeschichte der Gesetzlichen Rentenversicherung, über die Ausgestaltung von Systemelementen im gesellschaftlichen Wandel und zur Rentenversicherung im internationalen und intersektoralen Vergleich bis hin zur Diskussion von Gegenwartsproblemen und Zukunftsperspektiven des Alterssicherungssystems. Grundanliegen der Herausgeber war es dabei, die Darstellung der Alterssicherung nicht auf die politische Geschichte im engeren Sinn zu beschränken, sondern neben der Sozialgeschichte auch die Disziplinen Rechts-, Politik- und Wirtschaftwissenschaften einzubeziehen. Damit ist der Sammelband für ein interdisziplinäres Fachpublikum informativ.

Im Hinblick auf die anhaltende aktuelle Reformdiskussion zeigt Gisela Färber in ihrem Beitrag kritisch, dass es Renditevergleichen von Privatversicherung und Sozialversicherung an Differenziertheit mangelt, da die für die Sozialversicherung charakteristischen Umverteilungselemente (Kindererziehung, Invalidität, Hinterbliebenenversorgung etc.) nicht berücksichtigt werden. Tatsächlich kann die Äquivalenz von Beitrag und Leistung im Sozialversicherungssystem somit nach Alter, Geschlecht und Familienstand sehr unterschiedlich ausfallen. Werden weitere Prämissen des Vergleichs überprüft, wie die Sicherheit der prognostizierten Entwicklung des Kapitalmarktzinses und die Veränderung der Reallöhne, werden die hohen Verwaltungskosten privater Versicherungen beachtet, reduzieren sich die Vorteile privater Versicherungen erheblich bzw. treffen nur noch auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu. Instruktiv sind auch die von Winfried Schmähl dargestellten Entwicklungstendenzen der Alterssicherung im internationalen Vergleich, die von einer strikteren Orientierung am Versicherungsprinzip (Österreich, Schweden) sowie von der Ausgliederung der Finanzierung sozialer Umverteilung aus dem Sozialversicherungssystem geprägt sind (Frankreich). Auch für die Bundesrepublik zeigen sich diese Entwicklungslinien. Für die Zukunft schlussfolgert Schmähl im Hinblick auf die Diskussion um Formen privater Altersvorsorge, dass sich die Einkommenssituation im Alter noch stärker differenzieren werde, je stärker die "obligatorischen öffentlichen Regel-Sicherungssysteme" in ihrem Niveau reduziert würden, da auch kapitalfundierte Formen der Altersvorsorge Erwerbseinkommen voraussetzten.

Zu den jüngsten historischen Entwicklungen der deutsch-deutschen Gegenwartsprobleme zeigt der Beitrag von Detlef Merten, dass die Übertragung des westdeutschen Rentensystems nicht für alle Gruppen von Rentnern und Rentnerinnen zu wirtschaftlichen Verbesserungen führte. Gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts argumentiert der Autor, dass die Überleitung der Ansprüche und Anwartschaften aus den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, die mit Rentenkürzungen für verschiedene Gruppen verbunden wurde, nicht verfassungsgemäß war. So könne beispielsweise nicht allen Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit pauschal unterstellt werden, sie hätten eine rechtsstaatswidrige oder die Grundsätze der Menschlichkeit verletzende Tätigkeit ausgeübt. Dies gilt u.a. für den Medizinischen Dienst wie auch für weniger qualifizierte Funktionen (Verkäuferinnen, Küchenpersonal). Die politische Vergangenheit der DDR mithilfe des Rentenversicherungsrechts zu bewältigen, resümiert Merten, sei insgesamt ein untauglicher Versuch gewesen.

Kaum bearbeitet wurden im Sammelband von Fisch und Haerendel in systematischer Perspektive allerdings die geschlechterpolitischen Komponenten, die auch in der Alterssicherung eine zentrale Rolle spielen. Die Analyse von Defiziten in den Konstruktionsprinzipien des Alterssicherungssystems wie auch die Diskussion von Ansätzen zur Weiterentwicklung einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen hätte die Publikation um ein wichtiges Element bereichert. Auch wenn die unlängst beschlossene Rentenreform in der Bundesrepublik Deutschland in der Veröffentlichung keine Berücksichtigung mehr finden konnte, werden die von den Autoren und Autorinnen aufgeworfenen grundsätzlichen Fragestellungen gleichwohl nicht an Aktualität verlieren.

Angelika Koch, Bonn





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