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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ralf Banken, Die Industrialisierung der Saarregion 1815-1914, Band 1: Die Frühindustrialisierung 1815-1850. (=Regionale Industrialisierung, Band 1), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2000, 481 S., geb., 148 DM.

Seit Sydney Pollards in den Siebzigerjahren vorgetragenem Plädoyer, die Industrialisierung als ein regionales Phänomen zu begreifen, hat auch in Deutschland die regionale Industrialisierungsforschung große Fortschritte gemacht. Inzwischen liegen neben wichtigen methodisch-theoretischen Beiträgen auch mehrere gewichtige Pionierstudien zu führenden deutschen Wirtschaftsregionen des 19. Jahrhunderts vor. Während aber zum Berliner Raum, zum Königreich Sachsen, zu den Wirtschaftszentren an Rhein und Ruhr und auch zu Oberschlesien schon vor einigen Jahren umfassende Untersuchungen erschienen sind, fand die Saarregion zunächst weit weniger Beachtung. Dabei zählte dieses im 19. Jahrhundert teilweise zum Königreich Bayern, größtenteils aber zum Königreich Preußen gehörende Gebiet zu den frühzeitig von der Industrialisierung erfassten deutschen Regionen und bildete nach dem Ruhrgebiet und Oberschlesien die dritte große deutsche Montanregion. Die von Ralf Banken nun vorgelegte Untersuchung zur Saarregion schließt daher eine große Lücke in der deutschen Industrialisierungsforschung. Bei dem erschienenen Beitrag handelt es sich um den ersten Teil einer bei Toni Pierenkemper an der Universität des Saarlandes begonnenen und dann an der Universität Frankfurt abgeschlossenen Dissertation, die mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde und der neuen Reihe "Regionale Industrialisierung" einen gelungenen Auftakt sichert. Der zweite Band, der die Jahre 1850 bis 1914 behandelt, soll in Kürze folgen.

In seinen einleitenden Abschnitten begründet der Verfasser in ausführlicher Auseinandersetzung mit der neueren Forschung seinen eigenen Ansatz einer regionalen Industrialisierungsforschung und legt dar, was er unter Saarregion versteht und welche Abgrenzungskriterien dabei zu Grunde gelegt wurden. Hierbei richtet sich der Verfasser nicht nach traditionellen historisch-administrativen Abgrenzungen. Vielmehr folgt er dem von Pierenkemper, Tilly und Fremdling entwickelten Konzept, das die Homogenität wirtschaftlicher Strukturen als entscheidendes Definitionskriterium einer Region ansieht. Wichtigste Indikatoren sind eine homogene Beschäftigungsstruktur in den kleinsten administrativen Einheiten und der Nachweis größerer Betriebe der untersuchten Industriezweige innerhalb der Gemeinden aus Kreisen mit einer Industriebeschäftigung von 20 bis 35%. Die auf einer breiten Datenbasis definierte Industrieregion Saar konstituierte sich für Banken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts demnach "aus einem Kernbereich, der ungefähr die Kreise Saarbrücken, Ottweiler und Saarlouis umfasste", seit der Jahrhundertmitte immer stärker nach Osten, Norden und Süden ausgriff und somit über die preußischen Kerngebiete auch bayerische und lothringische Gebiete einbezog. Der Studie liegt somit kein statisches, sondern ein dynamisches Verständnis von Wirtschaftsregionen zu Grunde.

So überzeugend die methodischen und theoretischen Grundlagen der Arbeit umrissen werden, so beeindruckend sind die im zweiten Teil der Arbeit vorgelegten quantitativen und qualitativen Analysen zur Entwicklung der wichtigsten industriellen Branchen. Die Darstellung basiert auf einer ungewöhnlich breiten Quellengrundlage und gewinnt ihren Wert nicht nur durch die detaillierte Beschreibung der jeweiligen Entwicklungsprozesse. Vielmehr werden die regionalen Befunde vom Verfasser mit den aus anderen Regionen vorliegenden Ergebnisse verglichen und in den gesamten deutschen Industrialisierungsprozess eingeordnet. Im Mittelpunkt der Analysen stehen die beiden wichtigsten Sektoren der regionalen Industrialisierung, der Steinkohlenbergbau und die Eisenindustrie. Banken beschreibt ausführlich die rechtlichen und administrativen Besonderheiten des Steinkohlenbergbaus an der Saar und bringt reichhaltiges Material zu den technischen Entwicklungen, den Nachfragebedingungen und Absatzstrukturen sowie zu den Arbeitsverhältnissen. Obwohl es an älteren Arbeiten zur Geschichte des Saarbergbaus nicht mangelt, gibt Banken auf Grund seines reichen Datenmaterials und seiner Interpretationen neue Antworten auf die Frage, warum gerade der Steinkohlenbergbau eine so tragende Bedeutung für die Industrialisierung der Region gewann. Das Gleiche gilt für die breit behandelte Eisenindustrie, deren gesamtwirtschaftliche Bedeutung für die Region bis 1850 noch begrenzt blieb, die aber trotz des Niedergangs alter Strukturen schon in der ersten Jahrhunderthälfte in technischer, finanzieller und personeller Hinsicht die Grundlagen für den Take-Off der folgenden Jahrzehnte legte. Hinzu kommen ausführlichere Abschnitte zum Glashüttengewerbe und zur Keramikindustrie, die ebenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits von überdurchschnittlicher Bedeutung waren und das industrielle Wachstum der Saarregion mittrugen.

Was den Verlauf des Wachstums in der ersten Jahrhunderthälfte betrifft, so verweist der Verfasser zunächst einmal darauf, dass die wirtschaftliche Bedeutung der so genannten Franzosenzeit der Jahre 1795 bis 1813 bislang unterschätzt worden sei. Für die Saarregion waren diese Jahre der Zugehörigkeit zu Frankreich eine Modernisierungsphase, die auch bereits mit einem kräftigen Wachstumsschub neuer Industrien verbunden war. Größere Anstöße brachten dann freilich die Dreißigerjahren, in denen die Beschäftigung in allen Hauptindustriezweigen kräftig wuchs und nun sogar das Bevölkerungswachstum überstieg. Der Kohlenbergbau und die von den Familien Villeroy und Boch dominierte Keramikindustrie verzeichneten dabei die stärksten Zuwächse. Das Wachstum aller führenden Industriezweige der Region wurde nach Ansicht von Banken besonders durch eine frühe Adaption neuer Techniken, Ansätze betrieblicher Sozialpolitik, eine bereits hohe Unternehmenskonzentration, geschickte Finanzierungsstrategien und eine anhaltende Nachfrage außerregionaler Gebiete maßgeblich gefördert. Bemerkenswert sind die Vergleiche mit den Entwicklungen in den anderen bedeutenden Montanregionen, dem Ruhrgebiet und Oberschlesien. Banken kommt hier zum einen zu dem Ergebnis, dass jedes dieser Montangebiete angesichts unterschiedlicher naturräumlicher, geografischer, wirtschaftsrechtlicher und eigentumsstruktureller Bedingungen eigene Verlaufsmuster des Industrialisierungsprozesses ausbildete. Zum anderen belegt er mit seinem umfangreichen, sorgsam ausgewerteten Datenmaterial, dass die Saarindustrie auf Grund günstigerer Rahmenbedingungen in mehreren Bereichen zwischen 1800 und 1850 ein stärkeres Wachstum verzeichnete, gewissermaßen zum Frühstarter wurde und eigentlich gut gerüstet in den Take-Off der Fünfzigerjahre ging. Wichtige Vorteile des Pioniers wandelten sich jedoch dann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder zum Nachteil, weil jetzt die Saarregion vor allem auf Grund der Eigentumsverhältnisse im weitgehend staatlich betriebenen Kohlenbergbau, auf Grund der Kohlenbeschaffenheit, aber auch der Unternehmenskonzentration, des Unternehmerpatriarchalismus und anderer sozialer Faktoren mit den Wachstumskräften an der Ruhr und in Oberschlesien nicht mehr Schritt zu halten vermochte. Wie die Wachstumsprozesse der zweiten Jahrhunderthälfte verliefen und wie sich die Wirtschaftsregion an der Saar weiter ausbildete, wird Gegenstand des zweiten Bandes sein, der angesichts der überaus gelungenen Analyse der Frühindustrialisierung von gleicher Qualität sein dürfte. Fest zu halten bleibt, dass Rolf Banken mit der imponierenden Forschungsleistung nicht nur die Wirtschaftsgeschichte des Saarlandes bereichert hat, sondern zugleich der deutschen Industrialisierungsforschung einen wichtigen Baustein beigefügt hat.

Hans-Werner Hahn, Jena





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