ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

David Schimmelpenninck van der Oye, Toward the Rising Sun. Russian Ideologies of Empire and the Path to War with Japan, Northern Illinois University Press, DeKalb/Illinois 2001, 352 S., hardcover, 40 $.

An diplomatiegeschichtlichen Studien über die Ursachen des Russisch-japanischen Krieges 1904/05 herrscht kein Mangel und auch hinsichtlich der Wechselbeziehungen zwischen innerer und äußerer Politik im ausgehenden Zarenreich liegen für die russische Variante des Imperialismus Referenzstudien vor. [ Zusammenfassend: Jan Kusber, Der russisch-japanische Krieg 1904-1905 in Publizistik und Historiographie. Anmerkungen zur Literatur über den "kleinen siegreichen Krieg", Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas NF 42 (1994), S. 217-234; sowie S.C.M. Paine, Imperial Rivals. China, Russia and their disputed Frontier, Armonk, London 1998.] Umso gespannter durfte man auf Schimmelpenninck van der Oyes Studie sein, die auf einer Fülle von ausgewertetem Archivmaterial und publizierten Quellen beruht, die bislang einzigartig zu nennen ist. Seine Darstellung gliedert er in zwei Teile. Im ersten entwickelt er anhand von vier intellektuell-biografischen Skizzen die unterschiedlichen Vorstellungen, die an der Wende zum 20. Jahrhundert in der russischen Gesellschaft über Asien und den Fernen Osten bestanden, im zweiten untersucht er anhand der russischen Fernostpolitik im Jahrzehnt vor Ausbruch des Russisch-japanischen Krieges, welche Wirkung diese Vorstellungen auf die handelnden Personen in Sankt Petersburg gewinnen konnten.

Vor allem der erste Teil bietet eine Reihe von neuen Einsichten: Dass es der auch noch im postsowjetischen Russland zur Schullektüre gehörende Asienreisende Nikolaj M. Przewalskij war, der einem russischen Conquistadorentum im Stile eines Cecil Rhodes oder eines Carl Peters um 1880 das Wort redete und damit nicht unmittelbar, aber doch eine Generation später auf die Eliten des Zarenreiches prägend wirkte, stellt der Verfasser überzeugend dar. Nikolaus II. und andere verdankten seiner Publizistik, in der er zur Annexion der muslimisch besiedelten Gebiete Chinas aufrief, ein Gefühl der Überlegenheit, das sich zu einer Mission des "Weißen Zaren" auswachsen konnte (S. 23-41).

Gleichsam den Gegenpol repräsentierte Fürst Esper E. Uchtomskij, der - tief beeindruckt vom Alter und von den Errungenschaften der Kulturen Ostasiens - ein nachgerade romantisches Bild einer eigentlich in Asien liegenden Bestimmung Russlands hatte, die nicht annexionistisch sei, sondern sich in der gegenseitigen kulturellen Befruchtung erfüllen müsse. Dass auch seinem Konzept ein Überlegenheitsgefühl implizit war, zeigt seine Ansicht, dass nur durch die politische Führung des "Weißen" Zaren die alten, "gemeinasiatischen" Kulturwerte gegen den rationalen Westen verteidigt werden könnten. Uchtomskij war ein Produkt jener Strömungen, die auf der Suche nach Spiritualität und antirationalistisch denkend im Sankt Petersburg und Moskau des fin de siècle eine Zeit lang den Ton angaben. Als Begleiter des Zarewitsch Nikolaus auf dessen Grand Tour konnte er auf den Zaren Nikolaus Einfluss ausüben (S. 42-61).

Dass der langjährige Finanzminister Sergej Ju. Witte von derlei Begründungen für eine Hinwendung nach Asien wenig hielt und stattdessen die Errichtung eines "informal empire" in der Mandschurei vermittels Eisenbahnbau anstrebte und um 1900 auch weitgehend zu errichten schien, ist hingegen wohl bekannt und mehrfach beschrieben worden: Eine ökonomische Modernisierung des Zarenreiches vom Agrar- zum Industriestaat konnte nur erfolgreich sein, wenn es gelang, dem Reich ohne militärische Gewalt neue Absatzmärkte zu erschließen. Die transsibirische und die ostchinesische Eisenbahn schienen ihm hierfür die geeigneten Mittel zu sein. Eine zivilisatorische Mission Russlands im Fernen Osten sah er hingegen nicht, wenn er auch von einer kulturellen Überlegenheit ausging; das Zarenreich hätte zuvorderst jedoch seine ökonomische Rückständigkeit zu überwinden (S. 61-81).

Mit dem Verteidigungsminister und späteren Oberkommandierenden im Krieg gegen Japan, Aleksej N. Kuropatkin verband Witte die Abneigung gegen jedwede militärische Intervention in China. Eine Gefahr sah er - im Gegensatz zu Witte - sehr wohl von China ausgehen. Weniger intellektuell räsonierend als Vladimir Solov‘ev teilte er dessen auch in Westeuropa vertretene Auffassung von einer "Gelben Gefahr", die schon aus demographischen Gründen von China ausgehe. Ein Vergleich der Bevölkerungsdichte in Sibirien und in der Mandschurei ließ Kuropatkin immer zu einer defensiven Politik in Fernost raten - saß für ihn doch der eigentliche Feind, Deutschland, an der Westgrenze des Zarenreiches (S. 81-102).

Gewaltsamer Annexionismus und Faszination am Exotischen, ökonomische Durchdringung und Furcht vor einer "gelben Gefahr" waren Spielarten eines Orientalismus und Maximen möglicher Politik zugleich. Im zweiten Teil versucht der Verfasser sichtbar zu machen, zu welchen Phasen der Vorgeschichte des Russisch-japanischen Krieges welche Spielart den Vorrang hatte. Dies ist trotz der bekannten Fakten, die er einer Neusichtung unterzieht, nicht leicht, nicht zuletzt weil die beteiligten Personen ihre Auffassungen mehrfach wechselten, wie Zar Nikolaus selbst, oder der Fernostpolitik mit Desinteresse begegneten, wie weite Teile der russischen Öffentlichkeit. Deutlich wird eher die Vielstimmigkeit der russischen Politik, die umso dissonanter klang, je stärker die Konfrontation mit Japan in den Vordergrund rückte. Dabei erwiesen sich die Begriffe "Asien" und "asiatisch" als variabel aufladbare Metaphern, in der sich Fremdartigkeit und Faszination, aber auch das Bedürfnis nach eigener Größe nahezu beliebig aufeinander beziehen ließen. Diese Vielstimmigkeit ließ nur in der Phase der Witteschen Politikdominanz ein stärker geschlossenes politisches Konzept erkennen, in der Eisenbahnbau mit einer volkswirtschaftlichen Vision einherging, nicht aber in der folgenden erzwungenen Pachtung Port Arthurs, nicht im Boxer-Aufstand, nicht bei der Okkupation der Mandschurei und schließlich auch nicht im Konflikt mit Japan um Korea. Die russische Politik war hier in sehr viel stärkerem Maße, als es Schimmelpenninck im Rekurs auf die zu Grunde liegenden Strömungen verstanden wissen will, durch eine Eigendynamik der Ereignisse getrieben (S. 186-195).

Eine grundlegende Neuinterpretation der Vorgeschichte des Russisch-japanischen Krieges liefert der Verfasser nicht; dies war jedoch auch nicht sein Ziel. Dank seinen umfangreichen Archivstudien werden die Kommunikations- und Rezeptionsnetzwerke innerhalb der politischen Elite des Zarenreiches an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sehr viel besser nachvollziehbar. Aber nicht nur deshalb ist dem Buch ein breiter Leserkreis zu wünschen. Der plastische und lesbare Stil, der sowohl die Gedankenwelten der Akteure als auch die miteinander verwobenen diplomatischen Ereignisketten zu veranschaulichen vermag, zeichnen das Buch aus und machen es auch über den engeren Kreis der Fachkollegen hinaus empfehlenswert.

Jan Kusber, Kiel





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