ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrike von Hirschhausen, Jörn Leonhard (Hrsg.), Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Wallstein Verlag, Göttingen 2001, 452 S., brosch., 68 DM.

Dass und warum der Weg von der Nationalismus- zur Nationalismen-Forschung beschwerlich, aber außerordentlich perspektiveneröffnend ist, kann der von Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard besorgte Sammelband plausibel machen, der die Summen verschiedener thematisch einschlägiger Veranstaltungen sowie der von den Herausgebern organisierten Sektion des Aachener Historikertages enthält. Methodik, Konzeption, Kohärenz und Darstellung sind mustergültig und maßstabsbildend für die deutsche Nationalismusforschung im Besonderen, ja für die deutsche Nachwuchsgeschichtswissenschaft im Allgemeinen: Genau so muss man es machen, wenn man fachkollegial Ernst genommen werden und nicht bunte Seifenblasen für das Feuilleton produzieren will.

Wie sind die Herausgeber vorgegangen? Sie haben sich, um ein kürzlich von Hans-Ulrich Wehler wieder populär gemachtes Diktum aufzugreifen, zunächst durch Belesenheit vor Neuentdeckungen geschützt, und zwar gründlich. Die Einleitung "Europäische Nationalismen im West-Ost-Vergleich: Von der Typologie zur Differenzbestimmung" ist eine präzise nationalismusgeschichtliche Zwischenbilanz, die den enormen wissenschaftlichen Geländegewinn verdeutlicht, der seit dem von Heinrich August Winkler herausgegebenen Nationalismus-Reader (1978), der Anderson und Gellner-Rezeption (1980er-Jahre) und Otto Danns inzwischen zur Studienbasisliteratur gehörenden Zusammenfassung "Nation und Nationalismus in Deutschland" (1993) zu verzeichnen ist. Zudem werden Hirschhausen und Leonhard dem Untertitel ihrer Einleitung gerecht, indem sie mit einem feinem Gefühl für Niveau-Unterschiede die historiographische Topographie nachzeichnen und damit anschaulich machen, wie sich die Forschung von der in ihrer Zeit stimulierenden, zugleich die Verspätung der deutschen Nachkriegsgeschichtswissenschaft vor der sozialgeschichtlichen Wende verdeutlichenden Nationalstaats-Typologie Theodor Schieders zur vergleichend angelegten nationalismusgeschichtlichen Differenzbestimmung, also der Erforschung von Nationalismus im Plural, entwickeln konnte. Zugleich wird hier ein überzeugendes Beispiel dafür gegeben, wie es gelingen kann, in einem begrenzten Forschungssektor "harte" Modernisierungs- und "weiche" Kulturalismusinstrumentarien in einigen Fällen synergetisch zum Einsatz zu bringen. Die zehn Erkenntnis leitenden Fragekomplexe zum Ost-West-Vergleich, welche die Herausgeber gleichsam methodisch vor die Klammer gezogen haben, strukturieren nicht nur die Fallbeispiele ihres Sammelbandes, sondern auch die nationalismusgeschichtliche Forschung an sich, im Einzelnen die Fragen nach dem Verhältnis zur Modernisierung und zu den strukturellen Bedingungen, nach dem Bedeutungswandel des Nationalismus-Begriffs von integrierend bis exklusiv, emanzipatorisch und/oder antidemokratisch, nach den Trägern des nation-building und dem sozialen Profil der Nationalismen, nach der Pluralität innergesellschaftlicher und -nationaler Nationalismen, nach der Rolle des Staats, nach der Durchsetzungskraft gegenüber anderen und älteren Loyalitäten, nach den Leitmedien und Kodes, nach den Selbst-, Fremd- und Feinbildern, nach dem Zusammenhang von Kriegs- und Nationserfahrung, nach den Unterschieden zwischen "großen" und "kleinen" Nationen. Der auf diese Weise konstruierte Rahmen passt auf weitaus mehr Fälle, als der Sammelband in vier Abteilungen über "De[n] Pluralismus der Nationsbildungen in West- und Mitteleuropa", "Nationale Bilder und die Realität der Nation im Krieg", "Die ambivalente Repräsentation von Nationalismen" und "Konkurrierende Nationalismen in multinationalen Räumen Ostmittel- und Osteuropas" präsentieren kann.

Exemplarisch seien hier einige der 18 Beiträge und ihre Leitideen aufgegriffen. In der ersten Abteilung präsentiert Dieter Langewiesche, Tübingen, unter der Leitfrage von "Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland – ein Sonderweg?" den deutschen Fall und gelangt zu "Perspektiven für eine künftige vergleichende Nationalgeschichte Europas", in der "die Frage nach den Brüchen in der Nationalgeschichte, nach den Folgen dieser Brüche für die nationalen Selbstbilder (...)" (S. 67) zu akzentuieren wäre. Stefan Berger, University of Glamorgan, vergleicht in seinem Beitrag den britischen und deutschen Nationalismus: Was als "Kontrastprogramm" erscheinen mag, eröffnet im Blick auf "nationale Mythenbildung" bei aller Verschiedenheit erstaunliche Parallelen, sodass Bergers Plädoyer für eine vergleichende Nationalismusforschung im Blick auf "Erinnerungsorte" nicht nur Postulat bleibt. In der zweiten Abteilung liefert Herausgeber Jörn Leonhard, Oxford/Wadham College, einen prägnanten Beitrag über "Projektion und Grenze nationaler Integrationsvorstellungen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg", der den historischen Ort des "totale[n] Krieg[es] zwischen nationalem Legitimationsanspruch und gesellschaftlicher Partizipationskrise" beschreibt. In der dritten Abteilung greift Helke Rausch, Heidelberg, mit ihrem ebenfalls komparatistisch angelegten (und auch so geschriebenen) Artikel über "Öffentliche Denkmalfiguren in Paris und Berlin nach 1870/71" gleichsam eine Forschungsrichtung auf, an deren Popularisierung in Deutschland Thomas Nipperdey wesentlichen Anteil hatte. In der vierten Abteilung beleuchtet die Herausgeberin Ulrike von Hirschhausen, Riga, "Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im lokalen Raum Ostmitteleuropas" am Beispiel von Riga zwischen 1860-1914. Vor dem Hintergrund ihrer Fallstudie fordert sie eine "Verflechtungsgeschichte", die "den Nexus von Industrialisierung und Nationalismus" differenziert (S. 397).

Trotz der notwendigen Beschränkung – der Westeuropainteressierte mag einmal mehr vergeblich das Fehlen z.B. des niederländischen Falls bedauern – liegt hier weniger eine Fallstudiensammlung als vielmehr ein methodisch wie inhaltlich profundes nationalismengeschichtliches Handbuch vor.

Rolf-Ulrich Kunze, Frankfurt am Main





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